DIW Wochenbericht 13/14 / 2024, S. 224
get_appDownload (PDF 76 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 2.92 MB - barrierefrei / universal access)
In manchen Teilen westlicher Demokratien hat sich die Überzeugung durchgesetzt, der Kapitalismus sei nicht mehr zeitgemäß und ungeeignet, einen nachhaltigen Umgang mit unserem Planeten und breiten Wohlstand zu gewährleisten. Diese Auffassung zeugt nicht nur von einem falschen Verständnis von Kapitalismus, sondern wird auch durch die Realität widerlegt. Es ist vielmehr der Missbrauch von Kapitalismus und Demokratie durch einige wenige, der dringend benötigte Veränderungen verhindert.
Kapitalismus ist für viele ein Reizwort, das mit Ausbeutung von Menschen und Machtmissbrauch gleichgesetzt wird und der Transformation der Wirtschaft entgegenstehe. Kapitalismus brauche zwingend Wachstum, Nachhaltigkeit erfordere jedoch „degrowth“, also eine schrumpfende Wirtschaft. Auch ein produktiver und sozial ausgeglichener Umgang mit Digitalisierung und Globalisierung erfordere ein Ende des Kapitalismus und ein grundlegend neues Modell des Wirtschaftens. Dieses Argument gegen den Kapitalismus ist in fast jeder Hinsicht falsch und irreführend. Ein funktionierender Kapitalismus bedeutet die Freiheit für jeden Einzelnen, selbst über das eigene Leben zu entscheiden und nicht nur die Erfolge des eigenen Handelns zu realisieren, sondern auch für die eigenen Risiken und Fehler einzustehen. Kapitalismus bedeutet nicht, dass die dezentralen Entscheidungen Einzelner im Markt immer und überall besser sind als staatliche Entscheidungen. Denn allzu häufig scheitert der Markt, wenn Menschen und Unternehmen zulasten anderer den Markt dominieren oder große Risiken nur durch die Gesellschaft als Ganzes getragen werden können. Ein Marktversagen rechtfertigt nicht die Abschaffung des Marktes, sondern erfordert ein Eingreifen des Staates, um ein solches Versagen zu verhindern.
Auch der zweite Teil des Arguments, Kapitalismus brauche immer und überall Wachstum und sei daher unvereinbar mit nachhaltigem Wirtschaften, ist falsch. Es gibt genug Länder, beispielsweise Japan, die trotz zweier Jahrzehnte ohne Wachstum am Kapitalismus festhalten. Wachstum bedeutet nicht zwingend mehr Wohlstand, denn Wohlstand ist so viel mehr als die Produktion materieller Güter und Dienstleistungen: Er beinhaltet auch Dinge wie Gesundheit, sozialen Frieden, Solidarität und eine intakte Familie, die finanziell unmöglich gut gemessen werden können. Die Realität gibt dem Kapitalismus Recht: Staatliche Planung im Sozialismus ist gescheitert. Die Lösung der Polykrisen – von Klimaschutz über eine Neugestaltung der Globalisierung und Lösung geopolitischer Konflikte bis hin zum technologischen Wandel und künstlicher Intelligenz – erfordert keine Abschaffung des Kapitalismus, sondern Reformen der Demokratie als politisches System. Der Kapitalismus setzt sich fast überall auf der Welt durch, und dort, wo er es nicht tut – die prominentesten Beispiele sind Kuba und Nordkorea –, ist auch der wirtschaftliche Wohlstand gering. Das Problem ist, dass Kapitalismus und Demokratie nicht die dringend notwendigen Lösungen für die Krisen und Transformationen unserer Zeit liefern. Die Welt läuft sehenden Auges in eine Klimakatastrophe und zerstört die Lebensgrundlage für künftige Generationen. Die soziale Ungleichheit innerhalb von Gesellschaften nimmt zu. Und Kapitalismus und Demokratie scheitern in ihrem Versprechen des Wohlstands für alle.
Ein funktionierender Kapitalismus ist jedoch eine dringend notwendige Voraussetzung, um Wohlstand und Gerechtigkeit zu gewährleisten und die notwendigen Transformationen möglich zu machen. Es ist der Missbrauch von Kapitalismus und Demokratie, der dem im Wege steht. Dieser Missbrauch hat entscheidend zur Handlungsunfähigkeit vieler demokratischer Regierungen beigetragen und damit auch antidemokratische Politik begünstigt und Freiheit eingeschränkt. Die gute Nachricht: Menschen fast überall auf der Welt unterstützen demokratische Werte nach wie vor. Kapitalismus und Demokratie sind daher die besten Voraussetzungen für die Lösung unserer Polykrisen. Ziel muss es sein, beides wieder zum Funktionieren zu bringen, sodass Kapitalismus und Demokratie ihre Versprechen erfüllen können.
Dieser Kommentar ist in einer längeren Version am 15. März 2024 im Rahmen von „Fratzschers Verteilungsfragen“ bei ZEIT Online erschienen.
Themen: Ungleichheit, Konjunktur