DIW Wochenbericht 15 / 2024, S. 236
Christian von Hirschhausen
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Vor einem Jahr, am 15. April 2023, wurden in Deutschland die letzten drei Kernkraftwerke vom Netz genommen. Damit wurde ein Technologie- und Innovationsprojekt beendet, das nach dem Zweiten Weltkrieg mit großen Hoffnungen begonnen wurde und noch in den 1960er Jahren einen massiven Ausbau der Atomenergie erwarten ließ. Allerdings brach die anfängliche Euphorie bereits in den 1970er Jahren ab. Nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit wurden weitreichende Planungen bereits vor den Unfällen in den USA (Three Miles Island bei Harrisburg, 1979) und in der Sowjetunion (Tschernobyl, 1986) wieder zu den Akten gelegt. Insbesondere die Energieunternehmen selbst waren mit der Kernenergie nicht so richtig warm geworden, sodass jenseits der staatlich geförderten Kernkraftprojekte kaum privates Kapital in die Technologie floss.
Warum die Kernenergie als Pfeiler der weltweiten Energieversorgung gescheitert ist, ist schnell erklärt: Die Technologie war und ist komplex, risikobehaftet und daher von Anfang an teuer, und viel teurerer als andere Energieträger. Darüber hinaus sind mit Kernenergie auch Proliferationsgefahren verbunden, das heißt die missbräuchliche Nutzung etwa für die Waffenentwicklung. Die fehlende Wettbewerbsfähigkeit würde noch verstärkt werden, würde man die vernachlässigten Kosten des Rückbaus und der Entsorgung radioaktiver Abfälle berücksichtigen. Somit stehen einem geringen Nutzen erhebliche, langfristige und aus heutiger Perspektive noch gar nicht absehbare Kosten gegenüber. Daran ändern auch Debatten über sogenannte neuartige Reaktorkonzepte (auch als Reaktoren der vierten Generation bezeichnet) nichts. Über diese wird ebenfalls seit über 60 Jahren diskutiert, zwar durch den Traum von der Plutoniumwirtschaft animiert, aber auf absehbare Zeit nicht in die Realität umsetzbar.
Wer sich an der Phantomdebatte über die angeblich weltweite Renaissance der Atomenergie beteiligen möchte, aus welcher sich Deutschland nun angeblich zurückzieht, dem sei der aktuelle World Nuclear Industry Status Report 2023 empfohlen. Diese Veröffentlichung stellt seit mehr als 30 Jahren unabhängig Fakten zusammen, welche ausführlich belegt sind und von Fachleuten auch nicht ernsthaft in Frage gestellt werden. Laut Bericht geht der Anteil an Atomenergie an der weltweiten Stromerzeugung weiterhin zurück: Er beträgt aktuell nur noch neun Prozent, der niedrigste Wert seit 40 Jahren. Zudem ging im Jahr 2023 weltweit die Leistung von Kernkraftwerken um ein Gigawatt zurück, während Solaranlagen mit einer Leistung von 440 Gigawatt gebaut wurden. Außer in China ist der Bau neuer Kernkraftwerke praktisch zum Erliegen gekommen, und selbst dort liegt der Anteil der Kernenergie unterhalb von fünf Prozent. Nur drei Länder bauen Kernkraftwerke neu, beziehungsweise lassen bauen, da Russland im Kontext nuklearer Diplomatie sowohl die Technologie als auch die Finanzierung liefert: Türkei, Bangladesch und Ägypten. Dies sind nicht gerade Länder, die für innovative Energiekonzepte bekannt sind. Die Atomenergie erlebt also keine Renaissance, sondern ist weltweit auf dem Rückzug.
Die deutsche Energiewirtschaft hat die Abschaltungen der Kernkraftwerke problemlos bewältigt. Anders ist die Lage im Nachbarland Frankreich: Dort waren nach erratischen Kernkraftwerksausfällen zeitweise mehr als die Hälfte aller Kernkraftwerke vom Netz, was wiederum einen wesentlichen Treiber der Energiepreiskrise darstellt. In Deutschland wird bis Ende 2024 mehr zusätzlicher erneuerbarer Strom produziert als die abgeschalteten Kernkraftwerke lieferten. Der Weg zu 80 Prozent erneuerbarem Stromverbrauch im Jahr 2030, wie im Erneuerbare-Energien-Gesetz 2023 festgelegt, sowie auf 100 Prozent einige Jahre später ist weiter realistisch, ökonomisch und geopolitisch sinnvoll. Statt Phantomdebatten über zukünftige Neubauten zu führen, sollte der Fokus bei der Atomwende auf ungelöste Fragen der Zwischen- und Endlagerung gelegt werden, die seit den 1950er Jahren stark vernachlässigt wurden.
Themen: Energiewirtschaft