DIW Wochenbericht 16 / 2024, S. 247
Mattis Beckmannshagen, Erich Wittenberg
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Herr Beckmannshagen, wie haben sich die Arbeitszeiten in Deutschland seit der Wiedervereinigung entwickelt? Wird heute mehr gearbeitet als früher oder weniger? Insgesamt wird heute auf jeden Fall mehr gearbeitet als noch vor 30 Jahren. Das Gesamtarbeitsvolumen ist gestiegen, weil die Erwerbsbeteiligung in Deutschland zugenommen hat. Mitte der 2000er Jahre war das Gesamtarbeitsvolumen niedriger. Momentan liegt es auf einem Allzeithoch von etwa 55 Milliarden Arbeitsstunden, die jährlich in Deutschland geleistet werden.
Wie sieht die Entwicklung der durchschnittlichen Arbeitszeiten aus? Das ist eine spannende Frage. Während das Gesamtarbeitsvolumen gewachsen ist, sind die durchschnittlichen Arbeitszeiten gesunken.
Wie ist das zu erklären? Das hängt damit zusammen, dass die Erwerbsbeteiligung in den letzten 30 Jahren kontinuierlich zugenommen hat. Das betrifft insbesondere Frauen, die häufiger in Teilzeit arbeiten. Dementsprechend steigt die Summe der geleisteten Arbeitsstunden insgesamt, während die durchschnittliche Arbeitszeit unter den Beschäftigten fällt. Zwar arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit, gleichzeitig aber übernehmen insbesondere die Mütter den Großteil der Sorge- und Hausarbeit. Die Konsequenz daraus ist, dass ihre durchschnittlichen Erwerbsarbeitszeiten niedriger sind als bei Männern.
Welche Personen sind von Unterbeschäftigung betroffen und inwieweit stellt Unterbeschäftigung ein ungenutztes Potenzial zur Deckung des Fachkräftebedarfs dar? Es wird viel über den Fachkräftebedarf geredet. Gleichzeitig gibt es Menschen, die mehr arbeiten wollen. Insbesondere die Gruppe der Mütter, aber auch Minijobber*innen, wollen ihre Arbeitszeit ausweiten. Hier geht es um substanzielle Volumina, mit denen der Fachkräftebedarf zumindest in Teilen gedeckt werden könnte. Das betrifft nicht nur Hilfsarbeitskräfte, sondern auch Fachkräfte. Genau dieses Potenzial gilt es zu nutzen.
Wie ist es zu erklären, dass diese Menschen nicht Fuß fassen können, obwohl sie doch gebraucht werden? Besonders Mütter befinden sich hier häufig in einer schwierigen Situation, weil sie flexibel sein müssen. Wenn sie die Kinder aus der Kita abholen, Haushaltsaufgaben oder andere Dinge erledigen müssen, wird der Bedarf an Flexibilität immer größer. Hier müssten Arbeitgeber entgegenkommen, wenn sie diese Arbeitskräfte in größerer Zahl gewinnen wollen.
Was bedeuten Ihre Ergebnisse für künftige arbeitspolitische Weichenstellungen? Grundsätzlich ist es wichtig zu verstehen, dass Arbeitszeitentscheidungen auf Haushaltsebene stattfinden. Wenn beispielsweise gefordert wird, dass Überstunden steuerfrei sind, sollte man berücksichtigen, dass dies die existierende ungleiche Rollenverteilung zementieren kann. Denn wenn ein Partner – häufig der Mann mit höherem Einkommen – noch mehr der Erwerbsarbeit nachgeht, bleibt natürlich trotzdem die Arbeit im Haushalt. Und die wird dann leider nach wie vor mehrheitlich von Frauen erledigt. Der zweite Punkt ist, dass es für Familien eine Herausforderung darstellt, die Erziehungsaufgaben und die Erwerbstätigkeit unter einen Hut zu bekommen. Dementsprechend ist eine Stellschraube der Ausbau von Kindertagesstätten. Hier ist der Bedarf deutlich größer als das Angebot. Eine andere Baustelle ist, dass Minijobber*innen häufig unterbeschäftigt sind. Da stellt sich die Frage, welche Anreize die jetzige Minijob-Regelung setzt – insbesondere in Verbindung mit dem Ehegattensplitting. Auch hier könnte nachjustiert werden.
Themen: Gender, Arbeit und Beschäftigung