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15 Euro Mindestlohn: Weg mit den ideologischen Scheuklappen! Kommentar

DIW Wochenbericht 21 / 2024, S. 320

Marcel Fratzscher

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Der Streit um die Forderung von Bundeskanzler Scholz und anderen nach einem Mindestlohn von 15 Euro legt eine wichtige politische Konfliktlinie offen. Gute Argumente sprechen gegen einen politisch verordneten Mindestlohn von 15 Euro, jedoch noch bessere Argumente sprechen dafür. Denn auch die Wirtschaft und der Sozialstaat wären die Gewinner einer solchen Erhöhung.

Zu den Fakten: Seit 2019 haben sich die Preise in Deutschland durchschnittlich um 20 Prozent erhöht, die Löhne sind im Schnitt jedoch nur um 15 Prozent gestiegen. Mindestlohn-Beschäftigte stehen etwas besser bei der Lohnentwicklung da, denn der Mindestlohn ist seitdem um mehr als 30 Prozent gestiegen. CDU/CSU und die Arbeitgeber reagieren nun empört auf die Forderung, den Mindestlohn auf 15 Euro zu erhöhen. Sie monieren eine Politisierung des Mindestlohns und eine unberechtigte Einmischung in die Tarifautonomie. Die Tarifautonomie gilt es in der Tat zu schützen, doch im Niedriglohnbereich gibt es praktisch keine Tarifverträge. Die Notwendigkeit für einen Mindestlohn war erst dadurch entstanden, dass Menschen mit geringen Löhnen fast nie über Tarifverträge abgedeckt sind und Arbeitgeber ihre Marktmacht genutzt haben, um Löhne auf ein Minimum zu senken. Der Mindestlohn hat dazu beigetragen, dass Arbeitgeber und Beschäftigte im Niedriglohnbereich nun wieder ein wenig mehr auf Augenhöhe verhandeln.

Der zweite Kritikpunkt ist, die Politik solle sich nicht in die Empfehlungen der Mindestlohnkommission einmischen und deren Unabhängigkeit respektieren. Nur ist die Mindestlohnkommission nicht unabhängig, sondern sie ist politisch. In ihr sitzen vor allem Vertreter*innen von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Die Hauptkritik ist jedoch, dass eine Erhöhung des Mindestlohns Arbeitslosigkeit verursachen würde. Dieses Argument wurde mehrfach widerlegt. Einführung und Erhöhung des Mindestlohns haben nicht die Arbeitslosigkeit erhöht, sondern zu einer Verschiebung der Arbeitsplätze geführt: von weniger produktiven Jobs mit geringeren Löhnen in produktivere und besser bezahlte Jobs. Aus Sicht einzelner Unternehmen, die einen höheren Mindestlohn nicht zahlen können, mag dies bitter sein. Für Beschäftigte und Wirtschaft dagegen ist dies durchweg positiv.

Ein höherer Mindestlohn kann auch positiv für die Unternehmen und die Wirtschaft als Ganzes sein. Zum einen führen höhere Löhne zu mehr Motivation und Loyalität und zu einem geringeren Arbeitsplatzwechsel von Beschäftigten und somit zu geringeren Kosten für die Unternehmen. Zudem dürften höhere Mindestlöhne auch die Beschäftigung verbessern, da es sich für mehr Menschen lohnt, mehr Stunden zu arbeiten.

Es ist eine Ironie, dass viele der Kritiker*innen einer Mindestlohnanhebung auch häufig diejenigen sind, die fordern, Arbeit müsse sich wieder mehr lohnen, also der Lohnabstand zwischen denen, die arbeiten und denen, die nicht arbeiten, müsse größer werden. Genau dies würde eine deutliche Anhebung des Mindestlohns tun. Meist fordern sie auch, die Bundesregierung müsse bei den Sozialausgaben sparen. Ein höherer Mindestlohn wäre eine der effektivsten Instrumente, um Sozialausgaben zu reduzieren. Denn viele der sogenannten Aufstocker*innen würden von einem höheren Mindestlohn profitieren und dadurch weniger soziale Leistungen, wie Wohngeld oder Kinderzuschlag, benötigen. Man fragt sich, worum es den Kritiker*innen wirklich geht: um eine Verbesserung der Löhne und Einkommen oder um eine Kürzung der Sozialleistungen?

Der Mindestlohn war und ist eine der effektivsten Maßnahmen des Sozialstaats der vergangenen Jahrzehnte. Er hat zu mehr Arbeit und Beschäftigung beigetragen, den Niedriglohnsektor und damit das Armutsrisiko reduziert und die Unternehmen produktiver gemacht. Statt mit ideologischen Scheuklappen an die Diskussion um den Mindestlohn heranzugehen, brauchen wir einen sachlichen Dialog, wie der Mindestlohn und andere Arbeitsmarktinstrumente klug miteinander kombiniert werden können, sodass Beschäftigte und Unternehmen davon profitieren.

Der Beitrag ist am 21. Mai 2024 im Tagesspiegel erschienen.

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