DIW Wochenbericht 30 / 2024, S. 492
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Ursula von der Leyen wurde für eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission bestätigt. Was bedeutet das für die EU-Politik der kommenden fünf Jahre? Fakt ist: Europa steht am Scheideweg. Wir befinden uns in einer Zeit großer Unsicherheit, enormer Herausforderungen und eines sich verändernden geopolitischen Gleichgewichts. Die neue EU-Kommission muss liefern.
Ein zentraler Punkt dabei ist die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Das hat auch die alte und neue Kommissionspräsidentin erkannt. Von der Leyen fordert in ihrem Programm unter anderem einen neuen Ansatz in der Wettbewerbspolitik, der das Wachstum von Unternehmen auf globalen Märkten stärker unterstützt. „Das sollte sich auch in der Art und Weise widerspiegeln, wie wir Fusionen bewerten“, schreibt sie. Diese Sichtweise greift jedoch zu kurz. Eine zu strenge Wettbewerbspolitik ist nicht die Ursache der Probleme in der Wettbewerbsfähigkeit. Die Fusionskontrolle sollte das letzte Instrument sein, das zur Erreichung politischer Ziele gelockert wird. Die Förderung europäischer Champions darf nicht auf Kosten des Wettbewerbs in der EU gehen. Ein funktionierender Binnenwettbewerb ist eine wesentliche Triebkraft für Wettbewerbsfähigkeit und schränkt diese nicht ein.
Vielmehr sind Überregulierung, Bürokratie, hohe Steuern und der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften die Hauptursachen für Defizite bei der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Das Kernproblem bleibt aber das Fehlen eines echten europäischen Binnenmarktes und einer Kapitalmarktunion. Dies hindert Unternehmen daran, die für den globalen Wettbewerb erforderliche Größe zu erreichen und erschwert im Vergleich zu den USA den Zugang zu externer Finanzierung.
Neben Strukturreformen, die diese Probleme angehen, und einer strengen Wettbewerbspolitik ist auch eine wettbewerbsfreundliche Industriepolitik erforderlich. Europa muss sich auf Schlüsselinfrastrukturbereiche konzentrieren, die für die Transformation der Wirtschaft in Richtung Klimaneutralität und Digitalisierung entscheidend sind: Mehr und bessere Investitionen in Bildung, digitale Infrastrukturen (Cloud, „Supercomputer“) und Energieinfrastrukturen (Wasserstoff) sowie eine gezielte Industriepolitik in strategisch wichtigen Sektoren wie Batterien, Halbleiter und Impfstoffe sind erforderlich. Angesichts begrenzter Ressourcen müssen Prioritäten gesetzt werden.
Entscheidend wird sein, wie diese Maßnahmen konkret ausgestaltet werden. Industriepolitik muss nicht nur so weit wie möglich über Marktmechanismen statt über direkte Subventionen gestaltet werden. Im Mittelpunkt müssen auch die Auswirkungen auf den Wettbewerb stehen: Je mehr Wettbewerb auf diesen Märkten gefördert wird, desto wirksamer sind die industriepolitischen Maßnahmen. Darüber hinaus ist ein koordiniertes europäisches Vorgehen erforderlich, um zu verhindern, dass einzelne Mitgliedstaaten Alleingänge starten und die Industriepolitik von Lobbyismus und Partikularinteressen bestimmt wird. Ein gutes, aber ausbaufähiges Beispiel sind die IPCEI (Important Projects of Common European Interest), die öffentliche und private Investitionen in ganz Europa mobilisieren und Schlüsseltechnologien umfassen. Glücklicherweise wurde dies im Von-der-Leyen-Programm anerkannt.
Aber wir brauchen mehr: Die Koordinierung auf EU-Ebene, insbesondere beim Aufbau der Infrastruktur und bei der Harmonisierung der Regulierungssysteme, ist entscheidend für einen gut funktionierenden Binnenmarkt. Schließlich ist ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, der die Wettbewerbspolitik mit der Industrie-, Handels-, Klima- und Sicherheitspolitik verbindet. Wettbewerb muss die treibende Kraft sein, um diese Ziele zu erreichen, denn er spielt eine Schlüsselrolle für die Akzeptanz des ökologischen und digitalen Wandels.
Die Europäische Union steht vor großen Herausforderungen, die entschlossenes Handeln erfordern. Die Kommission sollte sich auf eine strategische europäische Industriepolitik konzentrieren, die den Wettbewerb in den Mittelpunkt stellt. Denn Wettbewerb ist dabei nicht das Problem, sondern Teil der Lösung für eine wettbewerbsfähige und nachhaltige europäische Wirtschaft.
Themen: Wettbewerb und Regulierung, Industrie, Europa