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Wirtschaftliche Erholung ist aufgeschoben, aber nicht aufgehoben: Editorial

DIW Wochenbericht 36 / 2024, S. 551-552

Marcel Fratzscher

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Die wirtschaftliche Erholung in Deutschland kommt nach wie vor nicht in Fahrt. Die Erwartung, dass sich die wirtschaftliche Dynamik beschleunigt, hat sich bisher nicht erfüllt. Stattdessen hat die deutsche Wirtschaft im zweiten Quartal erneut einen Rückschlag erlitten. Trotzdem gibt es gute Gründe, weshalb die wirtschaftliche Erholung in Deutschland nicht aufgehoben, sondern lediglich aufgeschoben ist. Der Schlüssel für die Erholung in den kommenden beiden Jahren dürfte nicht nur in den Investitionen der Industrie und im Außenhandel liegen, sondern vor allem in einer Erholung des privaten Konsums.

Die neue Herbstprognose des DIW Berlin prognostiziert für 2024 eine Stagnation der deutschen Wirtschaft, nachdem im Sommer noch ein kleines Wachstum von 0,3 Prozent erwar-tet worden war. Diese Revision ist vor allem einem schwachen zweiten Quartal geschuldet und einer Kombination von geringeren privaten Investitionen und Exporten. Vor allem aber hat sich in den vergangenen Monaten die Stimmung bei Unternehmen und auch Konsument*innen nach einer temporären Erholung im Frühjahr erneut eingetrübt.

Die Schwäche der Industrie und des Außenhandels setzt sich also nach einem kurzen Lichtblick zu Beginn des Jahres fort. Es dürfte noch bis zum Jahreswechsel dauern, bis sich die Investitionen und der Außenhandel nicht mehr negativ auf die Wirtschaftsleistung auswirken. Der bisher im öffentlichen Diskurs weniger betrachtete Aspekt ist die Schwäche des privaten Konsums. Alle Prognosen für die deutsche Wirtschaft sind bisher von einer deutlichen Stärkung des privaten Konsums als Haupttreiber der wirtschaftlichen Erholung ausgegangen. Diese Erholung des privaten Konsums bleibt jedoch bisher größtenteils aus, obwohl die realen Einkommen der Haushalte im Laufe des Jahres zum Teil deutlich gestiegen sind.

Drei Erklärungen spielen in diesem Zusammenhang eine übergeordnete Rolle: Zum einen ist die Verunsicherung der Konsument*innen nach wie vor hoch, Pessimismus und Zukunftssorgen haben sich in großen Teilen der Bevölkerung festgesetzt. Eine hohe Unsicherheit bedeutet, dass Konsument*innen wichtige Anschaffungen verschieben und lieber mehr sparen, um auf künftige Krisen oder Einkommenseinbußen vorbereitet zu sein. In der Tat haben sich nicht nur die Stimmungsindikatoren der Unternehmen in den letzten Monaten verschlechtert, sondern auch das Konsumklima in Deutschland ist bemerkenswert schlecht – trotz zum Teil deutlicher Lohnerhöhungen.

Eine zweite Erklärung sind die Auswirkungen der hohen Inflation der vergangenen Jahre. Zwar steigen die realen Löhne und Einkommen der Arbeitnehmer*innen seit Mitte 2023 im Durchschnitt wieder. Viele Menschen konnten die Kaufkraftverluste infolge der hohen Inflation zwischen 2021 und 2023 aber noch nicht kompensieren, sie haben heute real weniger Geld im Portemonnaie als vor drei Jahren. Die dritte Erklärung hat mit der Verteilung der Belastungen durch die Inflation und der Einkommensentwicklungen zu tun. Vor allem Haushalte mit mittleren und geringen Einkommen waren von der hohen Inflation stark betroffen, da vor allem Produkte des täglichen Bedarfs teurer geworden sind. Die Bundesregierung dagegen hat in den letzten Jahren durch das Inflationsausgleichsgesetz, steuerliche Begünstigungen von Einmalzahlungen und nun im Haushalt 2025 durch den Ausgleich der kalten Progression vor allem Menschen mit mittleren und höheren Einkommen finanziell entlastet. Menschen mit geringen Einkommen, die eine höhere Konsumquote haben, profitierten finanziell kaum.

Auch in den kommenden zwei Jahren sollten die Reallöhne in Deutschland steigen, zumal durch den Arbeitskräftemangel die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer*innen hoch ist. Zudem dürfte sich auch die Weltwirtschaft nach einer Schwächephase im kommenden Jahr wieder erholen und somit die Nachfrage nach deutschen Exporten graduell steigen. Aus diesen Gründen sieht unsere Prognose keine ausbleibende wirtschaftliche Erholung, sondern lediglich eine später beginnende. Im Jahr 2025 dürfte das Wirtschaftswachstum im Jahresdurchschnitt bei 0,9 Prozent und im Jahr 2026 sogar bei 1,4 Prozent liegen. Diese Wachstumszahlen sind weit höher als das mittelfristige Potenzialwachstum in Deutschland von 0,4 Prozent. Dies zeigt auch, dass die deutsche Wirtschaft noch immer weit unter ihrem Potenzial produziert und erhebliche Aufholkapazitäten hat. Zurzeit dürfte die Produktionslücke in Deutschland massive 1,9 Prozent betragen und der größte Teil der Lücke erst zum Ende des Jahres 2026 geschlossen werden.

Daher bleiben wir bei unserer vorsichtig optimistischen Einschätzung der wirtschaftlichen Erholung für die kommenden Jahre, auch wenn Rückschläge nicht ausbleiben werden. Die Risiken für die Weltwirtschaft sind nach wie vor groß: Sollte Donald Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt werden, könnten Handelskonflikte der USA mit China und Europa die deutsche Volkswirtschaft genauso empfindlich treffen wie eine Eskalation der Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten.

Aber auch hausgemachte Probleme in Deutschland könnten die deutsche Wirtschaft weiter belasten. Die Unzufriedenheit mit der Politik ist nach wie vor groß und die Verunsicherung so hoch, dass zahlreiche Unternehmen ihre Investitionen zurückhalten wollen. Wie die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen zeigen, kann eine zunehmende Polarisierung zu einer politischen Paralyse führen, zu einer Handlungsunfähigkeit auch in der Wirtschaftspolitik, so dass dringend benötigte Reformen noch schwieriger oder gar unmöglich werden.

Es gibt jedoch auch Lichtblicke in der wirtschaftlichen Entwicklung, die betont werden sollten. So ist der Arbeitsmarkt nach wie vor eine große Stärke, mit rund 46 Millionen Beschäftigten gibt es heute eine Rekordbeschäftigung in Deutschland. Der leichte Anstieg der Arbeitslosenquote ist auch der Zuwanderung von Geflüchteten geschuldet und eher eine vielversprechende Entwicklung, da so weitere Arbeitskräfte gewonnen und in den Arbeitsmarkt integriert werden können. Zudem ist die Inflation deutlich gefallen. Die besseren Finanzierungsbedingungen infolge der Zinssenkungen dürften einen wichtigen Impuls setzen, damit die Unternehmen wieder mehr investieren. Allerdings wird sich dieser Effekt erst über die nächsten zwölf bis 18 Monate entfalten und auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auswirken. Durch die geplante Wachstumsinitiative der Bundesregierung dürfte sich auch der Bundeshaushalt 2025 leicht positiv auf die Wirtschaftsleistung auswirken und die privaten Investitionen unterstützen. Die positiven Auswirkungen dieser Wachstumsinitiative sollten jedoch nicht überschätzt werden. Der Bundeshaushalt 2025 ist als Ganzes zu restriktiv und hätte expansiver sein sollen, um die schwache Wirtschaft in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen.

Vor allem benötigt die Finanzpolitik einen stärkeren Fokus auf die Entlastung von Menschen mit geringen und mittleren Einkommen. Die Schwäche des privaten Konsums sollte ein Weckruf an die Politik sein. Sie wird nur dann behoben werden können, wenn vor allem auch Menschen mit mittleren und geringen Einkommen dauerhaft höhere Realeinkommen haben und wieder Vertrauen fassen.

Die deutsche Wirtschaft befindet sich in der Stagnation, nicht in einer Krise oder substanziellen Rezession. Die Stimmung ist nach wie vor deutlich schlechter als die wirtschaftliche Realität. Die Enttäuschung über die bisher ausbleibende Erholung ist verständlich. Es gibt jedoch gute Gründe, dass die deutsche Wirtschaft 2025 und 2026 deutlich an Fahrt gewinnen wird. Die Politik muss diese wirtschaftliche Erholung noch stärker unterstützen, sowohl durch eine expansivere Finanzpolitik als auch durch kluge politische Entscheidungen und eine bessere Kommunikation.

Themen: Konjunktur

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