DIW Wochenbericht 48 / 2024, S. 766
Lars Felder, Erich Wittenberg
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Herr Felder, wie ist die abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte zu verstehen: als Belohnung für langjährige Beitragszahlungen oder als Hilfestellung für beruflich schwer belastete Menschen? In Deutschland wurden die Altersgrenzen für den Renteneintritt sukzessive angehoben, um die nachhaltige Finanzierung des Rentensystems sicherzustellen. Dabei wurde vielfach kritisiert, dass es Menschen gibt, die aufgrund ihrer beruflichen Belastung nicht in der Lage sind, bis zu diesen nach hinten verschobenen Regelaltersgrenzen zu arbeiten. Diesen Menschen sollte eine frühere Renteneintrittsoption ohne Abschläge gewährt werden. Gleichzeitig wird diese Reform aber auch als eine Art Belohnung für langjährige Rentenbeitragszahlungen dargestellt.
Wie stark wird der frühere Renteneintritt für besonders langjährig Versicherte genutzt und wer sind die Begünstigten? Heute nutzen fast ein Drittel der Menschen, die neu in Altersrente gehen, den früheren Renteneintritt nach 45 Jahren ohne Abschläge. Das sind am Beispiel des Geburtsjahrgangs 1957, den wir uns in unserer Studie näher angesehen haben, zu etwa 30 Prozent Personen, die in sehr belastenden Berufen tätig waren. Wir finden aber auch einen großen Anteil an Personen, die diese Rentenoption nutzen können, im Durchschnitt ihres Berufslebens aber keine besonders starke Arbeitsbelastung hatten. Gleichzeitig gibt es aber auch jene Personen, die beruflich sehr schwer arbeiteten, aber nicht auf die nötigen 45 Versicherungsjahre kommen.
Gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen der Dauer der Erwerbskarriere und der beruflichen Belastung? Personen, die eine lange, aber nicht übermäßig lange Erwerbskarriere von 35 bis 40 Jahren hatten, waren eher in weniger belastenden Berufen tätig. Das sind zum Beispiel Personen, die Abitur gemacht und zunächst ein Studium absolviert haben und daher im Gegensatz zu Personen, die mit einer Lehre ins Berufsleben einsteigen, gar nicht auf 45 Versicherungsjahre kommen. Es gibt auch Personen, die relativ kurz gearbeitet haben und nur auf 20 Versicherungsjahre kommen. Auch diese Personen weisen oft eine sehr schwere körperliche oder psychische Belastung während der Erwerbstätigkeit auf, sind aber weit davon entfernt, die Möglichkeit der vorgezogenen Altersrente nutzen zu können.
Wie entwickelt sich die berufliche Belastung im Lebensverlauf? Besonders junge Personen, die in den Beruf einsteigen, gehen physisch sehr belastenden Tätigkeiten nach. Dies nimmt dann im Laufe der Erwerbstätigkeit ab. Bei den psychischen Belastungen ist es andersherum: Hier steigt die anfangs geringe Belastung im Alter ab 40 Jahren an.
Warum nimmt die physische Belastung mit zunehmendem Alter ab? Das ist dadurch zu erklären, dass Personen ihren Beruf wechseln, weil sie die physische Belastung auf Dauer nicht aushalten. Oder sie übernehmen mit zunehmendem Alter eher Führungsverantwortung und üben daher weniger physisch belastende Tätigkeiten aus.
Was bedeuten Ihre Ergebnisse für die Ausgestaltung der Altersgrenzen in der gesetzlichen Rentenversicherung? Unsere Auswertungen zeigen, dass das Instrument der vorgezogenen Altersrente für Menschen mit 45 Versicherungsjahren wenig zielgenau ist, um Personen, die sehr belastende Tätigkeiten ausgeübt haben, zu entlasten. Ein zielgerichteteres Instrument wäre zum Beispiel eine Schwerarbeitspension wie in Österreich. Hier wird nicht nur auf die Versicherungszeit abgezielt, sondern auch berücksichtigt, welche Tätigkeiten ausgeübt wurden und wie belastend diese körperlich waren. Um der heutigen Arbeitswelt gerecht zu werden, müsste man aber auch psychische Belastungen betrachten und insgesamt an der tatsächlichen Beschäftigungsfähigkeit einer Person ansetzen.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.