Der Kuchen muss vielleicht gar nicht kleiner werden: Kommentar

DIW Wochenbericht 49 / 2024, S. 792

Marcel Fratzscher

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Die Hoffnung, dass die neue Bundesregierung die großen Probleme endlich löst, ist naiv. Vier grundlegende Konfliktlinien zwischen den Parteien im Bundestag spiegeln die Spaltung der Gesellschaft wider und werden wohl auch unter einer neuen Regierung – unabhängig von der Koalition – bestehen bleiben und sich womöglich sogar verschärfen.

Der erste Konflikt dreht sich um Identität und die Frage, ob und in welchem Ausmaß wir eine offene Gesellschaft sein wollen, die Vielfalt, Toleranz und Solidarität wertschätzt. Dieser Konflikt zeigt sich besonders stark beim Thema Migration. Angesichts der Tatsache, dass heute jeder vierte Mensch in Deutschland eine Migrationsgeschichte hat, wirkt dieser Konflikt befremdlich. Die Vielfalt erleichtert es jedoch populistischen Kräften, Gruppen gegeneinander auszuspielen und daraus politische Macht zu schöpfen. In der Ampel-Regierung bestand in vielen dieser Fragen Einigkeit. Unter einer neuen Bundesregierung dürfte sich jedoch die Konfliktlinie um die offene Gesellschaft verschärfen. Die Union verfolgt inzwischen einen migrationskritischen Kurs. Auch in anderen Bereichen wie der Gleichstellung und dem Schutz von Minderheitenrechten vertritt die Union stark konservative Positionen.

Der zweite grundlegende Konflikt betrifft die Rolle des Staates. Das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen ist in den letzten zwanzig Jahren stark erodiert. Die Union, vor allem FDP und AfD, nutzen dies für ihre Politik. Ein Beispiel ist die kategorische Ablehnung jeglicher Steuererhöhungen durch diese Parteien und dem Festhalten an einer strikten Schuldenbremse. Auch in der Wirtschafts- und Industriepolitik werden die unterschiedlichen Staatsphilosophien unter einer neuen Bundesregierung fortbestehen.

Die dritte grundlegende Konfliktlinie betrifft die Verteilungsfrage zwischen Arm und Reich, Jung und Alt sowie zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Auf der einen Seite stehen SPD, Grüne, Linke und BSW, die einen starken Sozialstaat als Grundlage des Gesellschaftsvertrags und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sehen. Auf der anderen Seite stehen Parteien, die massive Kürzungen der Sozialausgaben und eine Reduzierung des Sozialstaats fordern, um finanzielle Einsparungen für den Staat zu erzielen. Dieser Verteilungskonflikt wird unweigerlich größer werden Allerdings sind sich alle demokratischen Parteien in einer Verteilungsfrage einig: der Umverteilung von Jung zu Alt – vor allem, da Menschen im mittleren und höheren Alter die Mehrheit der Wähler von CDU, CSU und SPD ausmachen.

Die vierte Konfliktlinie betrifft Deutschlands Verantwortung in Europa und in der Welt. Europa ist für fast alle politischen Parteien und Gruppierungen zum Sündenbock geworden – vor allem für eigene Fehler. Auch die Ampel-Regierung verfolgte zunehmend nationale Alleingänge, anstatt Europa zu stärken und damit auch die eigenen Interessen gegenüber zunehmend nationalistischen Ländern wie den USA und China zu schützen. Diese grundlegenden, wenn auch nicht neuen Konflikte verschärfen sich in einer Welt, in der fast alle Parteien von einem Nullsummendenken dominiert werden: Der Gewinn des einen bedeutet zwangsläufig den Verlust des anderen, da der „Kuchen“ nur einmal verteilt und nicht größer wird. Dies rechtfertigt und verstärkt die Annahme eines zunehmenden Verteilungskonflikts.

Die Lösung für diese vier Grundsatzkonflikte liegt darin, dieses Nullsummendenken zu durchbrechen. Fakt ist, dass wir die großen Krisen und Transformationen unserer Zeit nur gemeinschaftlich und durch mehr Kooperation innerhalb und zwischen Gesellschaften lösen können. Die größte Herausforderung der neuen Bundesregierung wird darin bestehen, den Gesellschaftsvertrag neu zu verhandeln und diese vier Konfliktlinien anzugehen. Andernfalls droht der neuen Regierung dasselbe Schicksal wie der Ampel-Regierung: fortwährende, unüberbrückbare Konflikte, politische und gesellschaftliche Lähmung sowie der Verlust von Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit.

Der Beitrag ist in einer längeren Fassung am 22. November 2024 bei Zeit online erschienen.

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