Blog Marcel Fratzscher vom 1. November 2024
Ein gewisses Maß an Deindustrialisierung und ein damit verbundener Abbau von Arbeitsplätzen sind notwendig und richtig. Diese Aussage stößt auf Empörung und ist für viele schwer nachzuvollziehen.
Sollten Politik, Unternehmen und Gewerkschaften nicht alles daransetzen, existierende Strukturen und Arbeitsplätze zu erhalten? Die Antwort auf diese Frage ist entscheidend, ob Deutschland auch in 20 Jahren noch weltweit führend bei Wohlstand, Qualität und Bezahlung von Arbeitsplätzen und Wettbewerbsfähigkeit sein wird.
Dieser Gastbeitrag von Marcel Fratzscher erschien am 1. November 2024 bei FOCUS online.
Volkswagen steht wie kaum ein zweiter Fall für diese Grundsatzdebatte. Die Ankündigung von Werksschließungen und Entlassungen bei dem Traditionskonzern trifft einen Nerv.
Kaum ein Unternehmen ist ein so starkes Symbol für das Wirtschaftswunder, den großen Wohlstand und die globale Reputation von Produkten “Made in Germany”. Forderungen nach einem Erhalt aller Arbeitsplätze und Werke gehen jedoch von der falschen Prämisse aus und mit den falschen Zielen an diese Frage heran.
Denn Volkswagen steht heute gar nicht mehr vor der Wahl, alle Arbeitsplätze und Werke zu erhalten oder nicht. Der Konzern hat in den letzten 15 Jahren drei große Fehler gemacht. Er hat mit dem Dieselskandal viel Vertrauen weltweit verspielt, sich in eine zu starke Abhängigkeit von China begeben und den technologischen Wandel verschlafen . Das Resultat Ist ein Einbruch der Umsätze und ein Verlust der Wettbewerbsfähigkeit.
Die ehrliche und realistische Option heute ist, ob der Konzern jetzt drei Werke schließt , 15 Prozent der Beschäftigten entlässt und Löhne und Kosten um zehn Prozent senkt. Oder ob der Konzern die notwendige Transformation und Reformen noch länger verschiebt und damit in fünf Jahren deutlich mehr als drei Werke schließen und deutlich mehr als 15 Prozent der Beschäftigten in Deutschland entlassen muss.
Hätte der Autobauer vor zehn Jahren seinen Kurs korrigiert, dann hätte man Schließungen und Entlassungen vielleicht komplett vermeiden können. Vor fünf Jahren wären die notwendigen Einschnitte geringer gewesen als heute. Und in der Zukunft werden sie deutlich größer sein als heute.
Dies ist eine unbequeme Wahrheit, aber je früher sie erkannt wird, desto besser kann gegengesteuert und noch größerer Schaden vermieden werden. Und dies trifft nicht nur auf Volkswagen, sondern auf viele in der Vergangenheit erfolgreiche Branchen und Unternehmen zu. Es ist müßig, die Schuldigen für diese Situation an den Pranger zu stellen. Alle tragen eine gewisse Verantwortung: Die Politik bietet unzureichende Rahmenbedingungen und zu wenig Verlässlichkeit, das Management der Unternehmen hat sich im Erfolg der goldenen 2010er Jahre gesonnt anstatt innovativ und flexibel zu bleiben.
Von zentraler Bedeutung ist, dass Politik und Unternehmen realisieren, dass sie den Status Quo nicht zementieren können. Transformation heißt Veränderung, und Veränderung bedeutet, dass manche Unternehmen schrumpfen und Beschäftigte entlassen müssen, um sich zu erneuern und wieder wettbewerbsfähig zu werden und auch damit neue Ideen und junge Unternehmen entstehen und wachsen können.
Neben der Frage der Optionen ist die zweite Kernfrage für die Wirtschaftspolitik, was ihre Ziele sind. Der Aufschrei über eine Deindustrialisierung ist groß, wenn Unternehmen beispielsweise energieintensive Produktion ins Auslands verlagern. Das Ziel der Wirtschaftspolitik sollte jedoch nicht sein - mit gewissen Ausnahmen bei strategischen Prozessen -, Produktion per se in Deutschland zu verankern, sondern gute, innovative und zukunftsfähige Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern und zu schaffen.
Der große Erfolg unseres Wirtschaftsmodell in den vergangenen 75 Jahren war es, viel Produktion ins Ausland zu verlagern, die anderswo günstiger und besser gemacht werden kann, so dass die Produktion hierzulande sich auf die komparativen Vorteile fokussieren kann. Und energieintensive Produktion war nie ein komparativer Vorteil für Deutschland.
Genauso wenig sollte es Ziel der Wirtschaftspolitik sein, die bestehende Industrie genauso zu erhalten, wie sie heute ist. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung in Deutschland lag vor 50 Jahren bei über 40 Prozent, heute liegt er noch bei 20 Prozent und wird weiter sinken, weil dies ein globales Phänomen ist. Ein Auto bestand vor 50 Jahren fast komplett aus Hardware, in 20 Jahren könnte es zu 70 oder 80 Prozent aus Software bestehen, die vor allem durch Dienstleistungen erstellt wird.
Zudem gab es immer in den letzten 75 Jahren immer Phasen der Deindustrialisierung, in der ganze Branchen verschwunden oder deutlich geschrumpft sind, wie die Textilindustrie in den 1970er Jahren oder die Elektronikbranche in den 1980er Jahren. Auch damals war die Empörung in Deutschland groß, aber die Entwicklung war notwendig, richtig und auch gut, weil die dort verloren gegangenen Arbeitsplätze anderswo durch bessere Jobs ersetzt werden konnten.
Auch jetzt muss das Ziel sein, die in der Industrie freigesetzten Arbeitsplätze möglichst gut in anderen Bereichen der Industrie oder Dienstleistungen zu ersetzen. Der hoffnungsvolle Aspekt ist, dass Deutschland heute in fast allen Branchen einen großen Fachkräftemangel hat und die Chancen gut stehen, dass diese Beschäftigten wieder gut unterkommen. Und auch um dies klar zu sagen: Es ist natürlich für viele der Betroffenen dramatisch , ihre Arbeit zu verlieren und sich anderswo eine neue suchen zu müssen, möglicherweise in einer anderen Branche oder Region. Aber gesamtwirtschaftlich ist diese Entwicklung notwendig.
Zudem sollte die Politik nicht versuchen, einzelne Unternehmen zu bevorzugen. Viele Leserinnen und Leser mögen dies intuitiv für richtig halten, denn sollten nicht die Schwächsten und Verletzlichsten mehr Unterstützung erhalten als die Starken? Was für Menschen zutrifft, stimmt jedoch nicht für Unternehmen in einer sozialen Marktwirtschaft. Der Staat hat keinerlei Kompetenzen zu entscheiden, welche von ihnen zukunftsfähig sind .
Das Beste, was er machen kann, um gute Arbeitsplätze und Wohlstand langfristig zu schaffen und zu bewahren, ist fairen Wettbewerb zuzulassen und allen Unternehmen gleichermaßen gute Rahmenbedingungen bei Infrastruktur, Bildung, Bürokratie und Innovation zur Verfügung zu stellen. Die Konsequenz von Subventionen und Interventionen bei individuellen Unternehmen ist, dass die gesunden und erfolgreichen die Nachteile erleiden und die Wirtschaft als Ganzes nicht mehr, sondern weniger innovativ und erfolgreich ist.
Außerdem sollte der Staat frühzeitig agieren, um größeren Schaden in der Zukunft zu verhindern. Das bedeutet für die Bundesregierung heute, dass sie jetzt Unternehmen steuerlich entlasten sollte und Geld in die Hand nehmen muss, um öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Innovation deutlich zu verbessern.
Der Versuch, in unternehmerische Entscheidungen, wie bei Volkswagen, einzugreifen, existierende Strukturen zu zementieren und die Transformation zu verhindern, ist jedoch zwingend kontraproduktiv. Er wird Deindustrialisierung beschleunigen und den Arbeitsplatzverlust erhöhen. Wir brauchen eine zukunftsgerichtete Wirtschaftspolitik, die Veränderung fördert und fairen Wettbewerb zulässt. Nur so werden Unternehmen wieder wettbewerbsfähig und nur so können eine systematische Deindustrialisierung und ein weiterer Arbeitsplatzverlust verhindert werden.
Themen: Arbeit und Beschäftigung , Industrie , Unternehmen