Am 27. Mai feierte das DIW Berlin seinen 100. Geburtstag im Langenbeck-Virchow-Haus in Berlin-Mitte. In seiner Begrüßungsrede sprach der DIW-Präsident über die Geschichte des DIW Berlin, welche historische Verantwortung das Institut in seiner 100-jährigen Geschichte auf sich geladen hat und welche Bedeutung die Wissenschaft für die Demokratie hat.
Seine Begrüßungsrede im Wortlaut:
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„Ohne unabhängige Wissenschaft ist Demokratie nicht möglich“: Festrede von Marcel Fratzscher
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
herzlich willkommen, zur Feier des 100-jährigen Jubiläums des DIW Berlin. Es ist eine besondere Feier an einem besonderen Ort: das Langenbeck-Virchow-Haus, das in etwa so alt ist wie unser Institut und ebenfalls viel wissenschaftliche, wie auch politische Geschichte erlebt hat. Es freut mich besonders, so viele ehemalige Kolleginnen und Kollegen hier begrüßen zu dürfen.
Als das Institut vor 100 Jahren gegründet wurde, war die Idee: mit Zahlen evidenzbasierte Forschung zu machen und damit auch Politikberatung zu ermöglichen. Der Gründer Ernst Wagemann war Präsident des Statistischen Reichsamtes. Ihm lagen umfangreiche Daten vor – und er hat sich gefragt: Was kann ich damit machen? Wie kann ich die Forschung damit vorantreiben? Das war die Ursprungsidee für die Gründung des Instituts und ist auch die Konstante des Instituts geblieben: Evidenzbasierte Forschung, die sowohl für die Wirtschaft als auch für die Gesellschaft relevant ist. Und der Anspruch, dieses Wissen aktiv in die gesellschaftlichen Diskurse einzubringen.
Vieles hat sich verändert – allen voran die Themen, die wir bearbeiten. Gegründet wurden wir als Institut für Konjunkturforschung – wie der Name sagt, lag der Fokus auf Konjunkturforschung. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlagerte sich der Schwerpunkt zunehmend auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung – auch mit Blick auf die DDR und Osteuropa. In den 1980er Jahren kamen mit dem Sozio-oekonomischen Panel neue Schwerpunkte hinzu. Doch bei aller Veränderung gibt es Konstanten. Für uns als wissenschaftliches Institut sind die zentralen Werte die Unabhängigkeit und die Wissenschaftlichkeit. Nur als unabhängiges Institut können wir kritisch forschen, können wir hinterfragen – frei von politischen oder wirtschaftlichen Einflüssen. Diese Unabhängigkeit ist eine unserer größten Stärken – und sie wird durch die institutionelle Förderung innerhalb der Leibniz-Gemeinschaft gesichert. Auch wenn es manchen Akteuren nicht gefällt, was wir sagen, – und es gibt viele Akteure, denen es nicht gefällt – so können wir doch sagen: Wir arbeiten wissenschaftlich – unabhängig und evidenzbasiert.
Der zweite zentrale Wert, den wir als wissenschaftliches Institut vertreten, ist die Neutralität und die Objektivität. Unser Anspruch ist es, so neutral und objektiv wie möglich zu informieren. Natürlich wissen wir: Wissenschaft kann nie zu 100 Prozent objektiv sein. Allein schon die Themenauswahl ist ein Ausdruck von Interessen oder einer gewissen Ausrichtung. Aber genau deshalb setzen wir auf Transparenz: Wir legen offen, wie wir zu unseren Ergebnissen kommen. Wir machen unsere Methoden nachvollziehbar – und öffnen uns für Kritik. Wir stehen dafür, kritisch zu sein, aber auch konstruktiv. Unser Auftrag, so wie wir ihn verstehen, ist es, unbequem zu sein – unbequeme Wahrheiten auszusprechen und blinde Flecken sichtbar zu machen. Gruppen Gehör zu verschaffen, die im demokratischen Diskurs, im marktwirtschaftlichen Diskurs oft übersehen werden. Das ist Teil unseres Auftrags. Gleichzeitig wollen wir konstruktiv sein. Konstruktiv zu sein heißt für uns nicht, politische Entscheidungen herbeizuführen. Wir beraten nicht mit dem Ziel, Entscheidungen zu lenken – wir informieren. Wir zeigen Optionen auf und stellen Wenn-Dann-Analysen für Entscheidungsträger*innen zur Verfügung.
Zur wissenschaftlichen Arbeit gehört auch: Selbstkritik und Selbstreflexion. Sich bewusst zu sein, wo die eigenen Stärken liegen – und wo die Schwächen. Wir am Institut sind nicht nur Wirtschaftswissenschaftler*innen am Institut, sondern auch Wissenschaftler*innen aus Bereichen wie Soziologie, Psychologie, Politologie. Im Mittelpunkt unserer Forschung steht der Mensch. Wenn wir über Menschen forschen, heißt es natürlich, dass wir häufig auch falsch liegen. Das gehört zur Sozialwissenschaft – und zur Wissenschaft im Sinne Karl Poppers: Hypothesen immer wieder kritisch zu hinterfragen, Erkenntnisse zu überprüfen, besser zu werden und, wie gesagt, die Selbstreflektion.
Denn Offenheit, Innovationsfreude und Zukunftsorientierung sind für uns ebenfalls zentrale Werte. Wir wollen relevant sein für die gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit. Das spiegelt sich auch in unseren Themen der letzten zehn, zwanzig Jahre wider: Ein Schwerpunkt ist das Thema Verteilung und Ungleichheit – über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg. Hierfür liefert das Sozio-oekonomische Panel, die Haushaltsbefragung, die wir seit 1984 durchführen, eine einzigartige Datenbasis. Der zweite große Bereich ist der Klimaschutz, der Umweltschutz, die Energiewende – und damit die Frage: Wie können wir unsere Lebensweise nachhaltig gestalten? Welche Optionen gibt es für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft? Und der dritte große Themenbereich, zu dem wir forschen, ist Europa. Denn alle großen Herausforderungen unserer Zeit sind letztlich nicht national, lassen sich nicht innerhalb nationaler Grenzen lösen. Sie sind globale, gemeinschaftliche Herausforderungen, die wir auch nur gemeinschaftlich lösen können.
Das sind unsere Werte. Wir stellen den Menschen in den Mittelpunkt. Innerhalb des Instituts sind wir füreinander da, unterstützen die Kolleginnen und Kollegen. Und das gilt natürlich auch für den Mensch im öffentlichen Raum, im gesellschaftspolitischen Diskurs, mit einer wirtschaftswissenschaftsethischen Kommunikation, die ganz bewusst, wissenschaftlich und ausgewogen ist. Das sind die Werte, für die wir heute stehen, die für uns wichtiger denn je sind.
Der zweite große Begriff ist die Verantwortung. Das Institut hat viele gute Zeiten hinter sich, hat aber auch schlechte und schwierige Zeiten. Und zum dunklen Kapitel unserer Geschichte gehört das Dritte Reich, die NS-Zeit, in der das Institut nicht unschuldig war, sondern sich Teil der Machtmaschinerie des Naziregimes gemacht hat und dieses aktiv unterstützt hat. Es lieferte geheime Gutachten, etwa zu Fähigkeiten von Gegnern, zu Arbeitsrationen, zur Industriepolitik. Die industriepolitische Abteilung wurde später sogar Teil des Rüstungsministeriums. Wir waren Teil dieses Regimes und haben als Institut Schuld auf uns geladen.
Die Menschen, die im letzten Jahrzehnt am Institut gearbeitet haben, tragen keine persönliche Schuld, weil keiner in der Zeit mitgewirkt hat. Aber wir tragen als Institut Verantwortung. Insbesondere aus unserer Geschichte heraus leitet sich eine besondere Verantwortung ab für das, was heute passiert: Wir erleben die Aushöhlung der Demokratie. Wir beobachten zunehmenden Populismus, eine Polarisierung innerhalb der Gesellschaft, in der Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Wir sehen es im Protektionismus, den Rückzug ins Nationale. Es wird sich gegenüber Wahrheiten, auch wissenschaftlichen Wahrheiten verschlossen. Notwendige Reformen werden schwierig bis unmöglich gemacht.
Ohne Demokratie ist unabhängige Wissenschaft nicht möglich. Und ohne eine verantwortungsbewusste Wissenschaft kann Demokratie nicht funktionieren. Dieser Kernpunkt, dass wir als Wissenschaft eine Verantwortung haben, auch über unseren Bereich hinaus, ist wichtig. Aus der Geschichte unseres Instituts ergibt sich für uns der Auftrag, heute klar zu sagen: nie wieder.
Ich begrüße Sie nochmals ganz herzlich zu dieser Jubiläumsveranstaltung. Ich freue mich sehr, dass wir Sie, lieber Christian Drosten, als Keynote-Redner gewinnen konnten. Sie sind nicht nur für mich, sondern für viele Wissenschaftler*innen ein Vorbild für Wissenschaftskommunikation – trotz auch großer Widerstände und Gegenwind. Vielen Dank, dass Sie heute bei uns sind. Ein großes Dankeschön auch an Katja Berlin, die als Journalistin klug, reflektiert und auch sehr humorvoll häufig viele der Themen, die wir als Institut bearbeiten, aus journalistischer Perspektive begleitet. Mein großer Dank gilt auch den Panelistinnen. Für uns als Wissenschaft ist es wichtig, dass wir bei aller Unabhängigkeit mit Menschen in der Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft interagieren. Wir erstellen Gutachten für Ministerien oder auch für Wirtschaftsverbände oder Unternehmen. Aber genauso wichtig ist die Zivilgesellschaft.
Und deshalb freue ich mich sehr, dass wir heute mit Verena Bentele, Kristina Lunz und Luisa Neubauer drei starke Stimmen für die Sozialverbände, für das Thema Vielfalt, Diversität, Toleranz, und für Nachhaltigkeit haben. Ein herzliches Dankeschön an unsere Kuratoriumsvorsitzende Sigrid Nikutta, die gleich ein Grußwort sprechen wird, und an Severin Fischer, Staatssekretär in der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe, der heute kurzfristig für Kai Wegner einspringt. Und ein besonderes Dankeschön an Melanie Amann, die heute die Moderation übernimmt.