Wissenschaft ist oft Detektivarbeit. Aber Detektiv*innen sitzen auch in Bibliotheken. Im DIW Berlin sind die Bibliothekarinnen seit Langem eine Art Geheimwaffe, nicht nur für Mitarbeitende am Institut, sondern auch für die Medien und die Öffentlichkeit. Unter der E-Mail-Adresse kundenservice(at)diw.de kann man Rechercheanfragen stellen und bekommt umfangreiche Literaturlisten zurück – schon lange bevor es ChatGPT und Perplexity gab, gesammelt mit menschlicher statt künstlicher Intelligenz. Durch die stetig verbesserten Suchfunktionen in den Bibliothekskatalogen und auf der DIW-Webseite wird die bibliothekarische Fachsuche zwar nach und nach seltener angefragt, in besonders kniffligen Fällen zahlt sie sich jedoch immer noch aus. Als jüngst der Maler eines Portraits im Haus gesucht wurde, war es - für die Mitarbeitenden wenig überraschend - eine Expertin des Bibliotheksteams, die die Signatur entzifferte und durch einen Werkabgleich den Urheber herausfand.
Das Bibliotheksteam trug und trägt auch entscheidend dazu bei, dass die im DIW produzierten Publikationen und Daten in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ihre Wirkung entfalten können. Über den Zeitschriftentausch mit anderen Bibliotheken und anderen Forschungsinstituten hat das Team in den Vor- und Jugendzeiten des Internets die DIW-Publikationen in alle Welt geschickt und gleichzeitig die DIW-Bibliothek kostengünstig und damit steuergeldersparend mit Tauschexemplaren bestückt.
Heute funktioniert dieser Austausch nicht mehr über gedrucktes Papier, sondern über freizugängliche Daten. Noch im laufenden Jahr sollen alle Wochenberichte, die das Institut in den 100 Jahren seines Bestehens erstellt hat, online zugänglich gemacht werden.
Anja Kehmeier legt ein großes dickes Buch auf den Tisch. Der Einband grau-beige, die Ecken abgestoßen. Vorn drauf die Jahreszahl: 1945. Es ist eines der ersten Zugangsbücher des DIW. Kehmeier ist eine der drei Bibliothekarinnen am DIW und seit 1992 am Institut. Sie schlägt das alte Buch auf und tippt auf eine Seite. „Hier sieht man, welche Themen damals wichtig waren“, sagt sie und sucht zwei Titel heraus. „Struktur und Rhythmus der Weltwirtschaft“ zum Beispiel und „Das Erdöl im Weltkrieg“. Diese Publikationen wurden 1945 angeschafft und wie alle weiteren Bücher wurden diese Anschaffungen handschriftlich dokumentiert. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die wichtigsten Teile des Bibliotheksbestandes - gemeinsam mit vielen Mitarbeitenden – nach Feldberg in Mecklenburg ausgelagert. Was in Berlin verblieb, fiel in den letzten Kriegstagen den Flammen zum Opfer. Die Feldberger Bestände konnten zumindest teilweise wieder nach Berlin gebracht werden und bildeten gemeinsam mit Schenkungen den Grundbestand der neuen Bibliothek.
Das Anschaffungsbuch von 1945 zeigt, welche Bücher die Bibliothek damals angeschafft hat.
© DIW Berlin
Die Zugangsbücher zeigen eindrücklich den Wandel des Leseverhaltens der letzten Jahrzehnte: Während im DIW Berlin im Jahr 1990 noch über 1000 Bücher angeschafft wurden, seien es heute nur noch etwa 100 im Jahr, so Kehmeier. Das liege natürlich vor allem daran, dass die für die Forschung benötigten Daten und Literatur heute nicht mehr in gedruckter Form, sondern online und in Datenbanken vorliegen. Gerade im Bibliothekswesen fand und findet die Digitalisierung in rasantem Tempo statt. Auf dem Laufenden bleiben, was den technischen Wandel angeht, ist die Devise. Auch deshalb nehmen die Bibliothekarinnen des DIW Berlin regelmäßig an Fortbildungen teil.
Mit der digitalen Transformation haben sich die Recherchemöglichkeiten drastisch verändert. Ab den 1980er Jahren konnte in Datenbanken recherchiert werden, seit den späten 1990er Jahren sind diese internetbasiert. Der DIW-Bibliothekskatalog macht da keine Ausnahme, er ist seit 1992 elektronisch verfügbar. Kehmeier erinnert sich noch an die ersten Datenbanken für die Literaturrecherche und lacht bei dem Gedanken an den sogenannten „Akustikkoppler“. Ein Gerät, das heute anmutet wie aus der Steinzeit. Wer sich nicht erinnert oder damals noch nicht recherchiert hat, dem sei hier auf die Sprünge geholfen: Mittels Akustikkoppler konnte man sich mit seinem analogen Telefon in eine entfernte Datenbank einwählen und mit einer sogenannten Retrieval-Sprache recherchieren – die Computerprogramme waren damals noch DOS-basiert, die Rechner riesige Ungetüme. Und heute? Da wird die Suchanfrage im Google-ähnlichen Suchschlitz eingegeben, und das System dahinter greift nicht nur auf den eigenen Bibliothekskatalog zu, sondern automatisch auch auf etliche Online-Datenbanken in aller Welt. Viele der Suchergebnisse stehen dann gleich im Volltext zu Verfügung, so dass Forschende quasi in Echtzeit auf Informationen zugreifen können. Sehr praktisch!
Einige Bücher werden dennoch weiterhin angeschafft - sowohl für die Forschenden als auch für das Verwaltungspersonal des Instituts. Aber auch bei der Erfassung dieser Bestände hat sich viel geändert: Die Katalogisierung geschah früher bei der Deutschen Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften in Kiel, und die dort erstellten Katalogkarten kamen per Post nach Berlin.
„Bücher im Hintergrund sind immer gut“, sagt Anja Kehmeier. Deshalb wählten viele Kamerateams die Bibliothek als Hintergrund.
© DIW Berlin
Von den dafür benötigen Katalogschränken ist für die Benutzer*innen heute im Lesesaal nichts mehr zu sehen. Dieser lichtdurchflutete, ruhige Ort, der nicht nur zum Stöbern und Forschen einlädt, dient heute auch als Kulisse für zahlreiche Fernsehinterviews. Wenn beispielsweise DIW-Präsident Marcel Fratzscher oder Klimaexpertin Claudia Kemfert vor den Fernsehkameras ihre Einschätzungen zu aktuellen Entwicklungen abgeben und ihre Forschungsergebnisse präsentieren, zieht es die Kamerateams oft in die Bibliothek. „Bücher im Hintergrund machen sich immer gut“, weiß Kehmeier. „Viele verbinden wissenschaftliche Erkenntnisse nach wie vor mit vollen Bücherregalen“.
Nicht nur die Nutzung des Lesesaals hat sich gewandelt, sondern auch die Ansprüche und Anforderungen an die Bibliothek und ihre Mitarbeiterinnen. So besteht ihre Hauptaufgabe heute nicht mehr vorwiegend in der Beschaffung von Literatur für die Wissenschaft, sondern in der Veröffentlichung und Dokumentation der DIW-Publikationen. Diese stehen aller Welt kostenfrei, also im Open Access, zur Verfügung. Zusammen mit den Webmastern haben die Bibliothekarinnen ein System entwickelt, mit dem die wissenschaftlichen Arbeiten der Forscher*innen automatisch im Netz erscheinen – an den richtigen Stellen und mit den richtigen Themen-Schlagworten.
Die Anforderungen und Themen eines Forschungsinstituts ändern sich ständig und so sind die Bibliothekarinnen gespannt, was die nächsten Jahre ihnen noch bringen.