42 Jahre lang hat Reiner Stäglin für das DIW Berlin gearbeitet – vom Studium bis zur Rente. Er kam im April 1962 ans Institut und entwickelte maßgeblich die Input-Output-Rechnung für Deutschland mit. Später leitete er die entsprechende Unterabteilung. „Die Input-Output- Rechnung ist mein Leben, zumindest das berufliche“, erzählt Reiner Stäglin bei einem Treffen im April 2025. 100 Jahre DIW Berlin, 100 Jahre Wirtschaftsforschung für Deutschland und die Welt. Da darf Reiner Stäglin nicht fehlen.
Eigentlich hatte Stäglin nach seinem Uniabschluss der Volkswirtschaftslehre 1962 schon einen Arbeitsvertrag unterschrieben, als er von Rolf Krengel, Leiter der Industrieabteilung, erfuhr, dass das DIW eine eigene Wissenschaftlergruppe zur Input-Output-Rechnung aufbauen wollte. Zu diesem Zeitpunkt stand diese Art der Berechnung noch ganz am Anfang. „Ich wusste, dass die Input-Output-Rechnung etwas bietet, was andere volkswirtschaftlichen Instrumente nicht können: Sie berücksichtigt die vor- und die nachgelagerten Wirtschaftszweige“, erklärt Stäglin. Denn die Input-Output-Rechnung basiert auf einer Matrixstruktur, in der die Produktions- und Güterströme detailliert abgebildet werden. Dies ermöglicht eine umfassende Darstellung der gesamten Wertschöpfungskette einer Volkswirtschaft und ihren Verflechtungen.
Reiner Stäglin erklärt „seine“ Input-Output-Tabelle als Wandtafel.
© DIW Berlin
Reiner Stäglin erklärt das gerne anhand eines praktischen Beispiels, das Wassily Leontief verwendet hat. Leontief war ein russisch-amerikanischer Ökonom, der 1973 für seine Arbeiten zur Input-Output-Rechnung den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt -– und er war ein guter Freund Stäglins. „Wenn ich einen Kuchen backen will, brauche ich dazu Mehl, Zucker und Milch. Das sind die Inputs, der Output ist der Kuchen“, sagt Stäglin.
Doch ganz so einfach ist es nicht. „Das Modell lässt sich auf ganz andere Bereiche übertragen, zum Beispiel auf die Automobilindustrie“, erklärt Stäglin. Mithilfe der Input-Output-Rechnung konnten Stäglin und sein Team aufzeigen, welche vorgelagerten Produktionsstufen mit der Automobilproduktion zusammenhingen. „Die Motoren kommen von einem Werk, die Reifen von einem anderen, die Sitze wieder von woanders“, sagt Stäglin. Erst wenn all diese Zulieferungen laufen, die eben auch Teil der Automobilindustrie sind, kann ein Auto produziert, verkauft und möglicherweise exportiert werden. „Es gibt also dadurch eine indirekte Exportabhängigkeit dieser Zulieferbetriebe.“
Die größte Herausforderung für solche Input-Output-Berechnungen lag in der Beschaffung der Daten. Stäglin: „Wir hatten sehr gute Kontakte zum Verband der Automobilindustrie und zu den großen deutschen Automobilherstellern.“ So konnte die Input-Seite – genauso wie die Output-Seite - der Rechnung gefüllt werden.
Während die Input-Output-Rechnung heute fester Bestandteil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ist, war die deutsche Bundesregierung anfangs nicht begeistert von dem Modell. Stäglin erinnert sich noch gut an die Worte Ludwig Erhards. Der damalige Bundeswirtschaftsminister und spätere Bundeskanzler hatte gesagt, dass „die Input-Output-Rechnung ein Instrument der Planwirtschaft“ sei und „man nicht daran denke, derartige Arbeiten zu fördern“. Das habe sich erst mit dem Wechsel zur großen Koalition 1966 geändert.
Wenn man Stäglin heute fragt, was in einem Artikel über seine Arbeit zur Input-Output-Rechnung nicht fehlen darf, dann erzählt er vor allem von seinem Forschungsaufenthalt am Harvard Economic Research Project (HERP) in Cambridge, Massachusetts im Jahr 1969. „Das war damals das Zentrum der Internationalen Input-Output-Rechnung. Die Arbeit, die dort geleistet wurde, strahlte in die ganze Welt aus“, sagt Stäglin. Dort habe er viel gelernt, erinnert sich der heute 86-Jährige, zum Beispiel, die Input-Output-Rechnung auch zu vermarkten und Regierungen und Unternehmen davon zu überzeugen, sie anzuwenden.
Stäglin zu Besuch im DIW Berlin im April 2025, mit vielen Unterlagen.
© DIW Berlin
Ein Meilenstein war für Stäglin ein Vortrag auf der Hannover-Messe 1985, wo er zusammen mit dem Nobelpreisträger Leontief die bundesdeutsche Input-Output-Rechnung in einer mit der amerikanischen Input-Output-Rechnung vergleichbaren Wandtafel vorstellte. Anschließend publizierte der Verlag Spektrum der Wissenschaft die Tabelle. Unternehmen konnten sie für 195 DM ohne Rahmen erwerben. Die dort vorgestellte Tabelle hängt heute auf dem Flur der Kommunikationsabteilung im DIW Berlin.
Neben seiner Tätigkeit für das DIW Berlin, setzte sich Stäglin für den internationalen Austausch zur Input-Output-Rechnung ein und beriet Regierungen weltweit. Zypern, die Mongolei und Tansania standen u. a. auf seinem Reiseplan.
Im März 2006 wurde Reiner Stäglin mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet – für sein Lebenswerk und sein Engagement für die amtliche Statistik im In- und Ausland, besonders für die Input-Output-Rechnung. „Ich bekam plötzlich einen Brief vom Staatssekretär, dass Bundespräsident Horst Köhler mir das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse verleihen würde“, erinnert sich der Ökonom. Das sei schon eine besondere Auszeichnung gewesen. Getragen habe er das große Kreuz aber nur wenige Male, einmal beim Wiener Opernball, zu dem ihn ein Kollege von der österreichischen Input-Output-Rechnung eingeladen hatte.
Reiner Stäglin und sein Bundesverdienstkreuz im April 2025.
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Reiner Stäglin ist eines wichtig: „Die Input-Output-Rechnung am DIW war immer eine Teamarbeit.“ Stäglin und seine Leute brüteten tage- und wochenlang über den Berechnungen. Er erinnert sich noch gut daran, wie sie damals im dritten Stock des Institutsgebäudes in Berlin-Dahlem über den Flur riefen: „Ich brauche hier noch fünf Millionen, hast du die bei den Importen?“. Besonders wichtig sei die Konsistenzprüfung gewesen. „Wir haben das erst veröffentlicht, wenn wir sicher waren, dass die Zahlen auch belastbar sind“, sagt Stäglin. Er und seine Kolleg*innen seien aufeinander angewiesen gewesen. „Alleine wäre das nichts geworden“, ist er sich sicher.
Dass die Input-Output-Rechnung sein berufliches Leben so bestimmen würde, damit hatte Stäglin nicht gerechnet. „Ich hätte nie gedacht, dass das ein so großes System wird und ich dafür über 40 Jahre hier am DIW rumhängen würde.“ Am Ende war Stäglin der bekannteste Input-Output-Rechner Deutschlands. Er hielt rund 80 Vorträge, lehrte an verschiedenen Universitäten zum Thema, war Präsident der internationalen Input-Output Association (1992-1996) und trug den Spitznamen „Input-Output-Kardinal“. Die Bezeichnung rührt daher, dass Stäglin bei einem Gastvortrag an der Universität Heidelberg den Zuhörern vom einladenden Professor mit den Worten vorgestellt wurde: „Prof. Leontief ist ja der weltbekannte Input-Output-Pabst, aber ich kann Ihnen heute den deutschen Input-Output-Kardinal präsentieren“.
Autorin: Lena Högemann