Geopolitische Waffe, Brückenenergie und Klimakiller: Forschung zum Thema Erdgas am DIW Berlin

Erdgas als Energieträger – wenig hat sich in den letzten Jahrzehnten so gewandelt, wie die Einschätzung hierzu. Am DIW Berlin wurde zur Bewertung von Erdgas geforscht und die Ergebnisse in konkrete Politikberatung umgesetzt.

War Erdgas zunächst ein willkommener zusätzlicher Energieträger, um die wachsende Energienachfrage in Ost und West nicht nur mit Kohle und Öl zu bedienen, so ist bereits seit einigen Jahren klar, dass fossiles Erdgas das Klima schädigt, und zwar nicht nur durch die CO2-Emissionen bei seiner Verbrennung, sondern auch durch austretendes Methan in der Lieferkette. Dass Deutschland, mehr noch als der Rest Europas, zu einem immer größeren Anteil auf russisches Erdgas setzte, wurde bereits seit den 2000er Jahren vom DIW Berlin kritisch beobachtet.

In Lubmin, Mecklenburg-Vorpommern, landet Gazproms Nord Stream 2.
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In den 1980er und 1990er Jahren kooperierten die Abteilungen Energie (Dr. Hans-Joachim Ziesing) und Weltwirtschaft (Prof. Wolfram Schrettl), insbesondere in Beratungsprojekten in Osteuropa. Prof. Claudia Kemfert machte das Thema seit 2004 zu einem Schwerpunkt der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt und beriet sowohl die Bundesregierung als auch die Europäische Kommission. Prof. Christian von Hirschhausen (von 1995 bis 2004 Mitarbeiter in der Abteilung Weltwirtschaft) gewann mit dem Paper “Transporting Russian Gas to Western Europe: A Simulation Analysis” 2005 den Best Paper Award der Internationalen Vereinigung der Energieökonomen (IAEE, mit Berit Meinhart und Ferdinand Pavel) und Prof. Franziska Holz etablierte das DIW Berlin in der internationalen Forschungselite im Ressourcenbereich u.a. dem Stanford Energy Modeling Forum (EMF), und einer strategischen Kooperation mit der Norwegischen Technischen Universität NTNU in Trondheim.

Über den Grenzübergangspunkt Olbernhau im sächsischen Erzgebirge kam jahrzehntelang russisches Gas, das über den Ukraine-Transit nach Tschechien und weiter nach Deutschland floss. Ab Mitte der 2010er Jahre floss hier auch russisches Gas in Gegenrichtung, das über die Nordstream-Pipeline kam.
© Franziska Holz/DIW Berlin

Gegen den expliziten Widerstand der Vereinigten Staaten, die bereits in den 1960er Jahren vor dem Missbrauch von Gasexporten der Sowjetunion als geopolitische Waffe argumentiert hatten, begab sich die Bundesrepublik Deutschland (und andere westeuropäische Länder wie Italien und Frankreich) in den 1970er Jahren in eine langfristige strategische Partnerschaft mit der Sowjetunion. Das waren die berühmten „Erdgasröhrengeschäfte“, in denen westdeutsche Erdgas-Pipelines gegen langfristige Erdgaslieferungen gehandelt wurden. Das DIW Berlin beschäftigte sich mit der Thematik bereits frühinfoJochen Bethkenhagen (1981): Erdgas aus der Sowjetunion. DIW Wochenbericht 48, S. 163-165. und intensivierte dies mit den Projekten hochrangiger Regierungsberatung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Russland, der Ukraine und Kasachstan in den 1990er Jahren.

Nord Stream 2 wurde – anders als Nord Stream 1 – nie in Betrieb genommen.
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Trotz zunehmender Warnungen – nunmehr auch aus vielen EU-Partnerländern – waren die Nord-Stream Pipelineprojekte der Regierungen Schröder (Nord Stream 1 Vertrag 2005) bzw. Merkel (Nord Stream 2, 2013) zwar die logische Fortsetzung der Ostpolitik, doch fielen sie in zunehmend konfliktbehaftetes geopolitisches Umfeld und die Wiederbelebung des Kalten Kriegs. Das DIW Berlin identifizierte die Ostsee-Pipelines frühzeitig als geopolitisches Instrument Russlands und seines Energiekonzerns Gazprom und warnte, dass diese nicht aus einer energieökonomischen Notwendigkeit errichtet wurden.infoSiehe u.a. Hirschhausen et al. (2005): Russische Energie- und Klimapolitik bleibt widersprüchlich – Herausforderungen für die EU. DIW Wochenbericht 10-2/2005; Holz et al. (2014): European Natural Gas Infrastructure: The Role of Gazprom in European Natural Gas Supplies, DIW Politikberatung kompakt 81 So titelte das DIW Berlin 2018 bezogen auf Nord Stream 2 als eine der wenigen kritischen Stimmen im Land: “Weitere Ostsee-Pipeline ist überflüssig“.infoNeumann et al. (2018): Erdgasversorgung: Weitere Ostsee-Pipeline ist überflüssig. DIW Wochenbericht 27-2018 Auch die Übernahme der Firma Wingas 2014 durch Gazprom – und damit von umfangreichen Gasspeichern in Deutschland – wurde vom DIW Berlin kritisch bewertet.infohttps://www.youtube.com/watch?v=71GMmqWEJO0 (Hier in einem Beitrag der Deutschen Welle bei Youtube nachzuschauen.) Insbesondere mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und den damit einhergehenden Lieferunterbrechungen hat sich die Einschätzung der DIW-Wissenschaftler*innen- leider – als richtig erwiesen.infoHolz et al. (2022): Energieversorgung in Deutschland auch ohne Erdgas aus Russland gesichert. DIW Aktuell 83

Auch in Bezug auf die Bedeutung für den Klimaschutz hat sich die Bewertung von Erdgas erheblich gewandelt, und das DIW Berlin war wiederum ein Vorreiter in der wissenschaftlichen Bearbeitung: Mit der in den 1990er Jahren beschleunigten Klimadiskussion gelang es der Erdgaswirtschaft für längere Zeit, sich ein Image der „Brückentechnologie“ in ein post-fossiles Zeitalter zu geben, insbesondere mit Verweis auf die angeblich wesentlich schmutzigere Kohle. Auch die DIW-Forscher*innen ließen sich durch dieses Narrative (ver-)leiten und hoben die Bedeutung des Erdgases auch für die Energiewende hervor.infoCf. u.a. Engerer & Horn (2009): Erdgas für Europa: die Importe steigen deutlich, DIW Wochenbericht 17-2009; Neumann & Hirschhausen (2015): Natural Gas: An Overview of a Lower-Carbon Transformation Fuel, Review of Environmental Economics and Policy Bei genauerem Hinschauen ist jedoch Erdgas (technisch gesprochen „Methan“ = CH4) insbesondere unter Berücksichtigung des gesamten Transportwegs genauso klimaschädlich wie Kohle, und sein Klimaerwärmungsfaktor ist 87-mal stärker als der von Kohlendioxid (CO2). Somit ist deutlich, dass nicht nur für die Energiewende und Klimaneutralität in Deutschland bis 2045, sondern für Klimaschutz weltweit ein zeitnaher Ausstieg aus der Erdgasnutzung angeraten wäre.

Autor*innen: Christian von Hirschhausen und Franziska Holz

Christian von Hirschhausen war von 1995 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter des DIW Berlin in der Abteilung „Weltwirtschaft“. Von 2004 bis 2009 war er Professor für Energieökonomik an der TU Dresden. Seit 2009 ist er Leiter des Fachgebiets Wirtschafts- und Infrastrukturpolitik an der TU Dresden.

Franziska Holz ist stellvertretende Leiterin der Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“, wo sie den Forschungsbereich „Ressourcen- und Umweltmärkte“ leitet. Sie ist seit 2004 am DIW Berlin, zunächst als Doktorandin in der Abteilung „Weltwirtschaft“ (bis 2008), dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ (seit 2009).

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Franziska Holz
Franziska Holz

Stellvertretende Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt

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