3. Februar 2025 – Mit der demografischen Entwicklung in Deutschland steigen auch die Herausforderungen für das Renten- und das Pflegesystem. Die finanzielle Stabilität der Systeme muss gewährleistet werden, ohne die Sicherungsfunktion der Renten- und Pflegeversicherung zu gefährden. Bei den anstehenden Reformen muss berücksichtigt werden, dass die Lebenserwartung und das Pflegerisiko systematisch vom Einkommen abhängen. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Menschen mit höherem Einkommen eine höhere Lebenserwartung haben und länger ohne Pflegebedarf leben. Dies führt zu einer Umverteilung in der Rentenversicherung zu Lasten von Menschen mit geringen Einkommen. Zukünftige Rentenreformen sollten daher vom System der Beitragsäquivalenz abweichen, um die Sicherungsfunktion für Menschen mit geringen Einkommen zu stabilisieren. In der Pflege würde die Einführung einer Bürgerversicherung, also der Zusammenführung von privater und gesetzlicher Pflegeversicherung, zu einem Ausgleich führen, da das Pflegerisiko von privat Pflegeversicherten deutlich geringer ist als das von gesetzlich Versicherten.
Der demografische Wandel ist eine der zentralen Herausforderungen für Deutschland in den kommenden Jahren. Ein wesentlicher Faktor für die Alterung der Gesellschaft ist die steigende Lebenserwartung. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland, nimmt seit Jahrzehnten kontinuierlich zu. Zwar hat sich der Anstieg seit Beginn der 2000er Jahre etwas verlangsamt, aber er liegt immer noch bei etwa 0,1 Jahren pro Jahr. Am aktuellen Rand hat die Corona-Pandemie zu einem leichten Rückgang geführt, für die Zukunft wird jedoch ein weiterer Anstieg erwartet. Die Lebenserwartung bei Geburt beträgt nach der Sterbetafel 2021/23 für Frauen 83,0 Jahre und für Männer 78,2 Jahre.Mehr Details zur Entwicklung der Lebenserwartung finden sich beim Statistischen Bundesamt (online verfügbar).
Diese Berechnungen gelten allerdings nur für den Durchschnitt der Bevölkerung. Die Lebenserwartung und ihr Anstieg unterscheiden sich deutlich zwischen verschiedenen Gruppen. Neben dem Wohnort (Region) und dem Geschlecht sind Bildung und Einkommen zentrale Merkmale, nach denen sich die Lebenserwartung unterscheidet. Diese Unterschiede lassen sich anhand der Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) im DIW Berlin quantifizieren (Abbildung 1).Die Daten und die Methode sind im Detail beschrieben in: Johannes Geyer, Peter Haan und Julie Tréguier (2024): Höheres Haushaltseinkommen geht bei Frauen und Männern mit höherer Lebenserwartung einher. DIW Wochenbericht Nr. 25, 395–400 (online verfügbar).
Die Wahrscheinlichkeit, zwischen dem 55. und 76. Lebensjahr zu sterben, liegt für Personen mit niedriger Bildung bei etwa 14 Prozent. Für Personen mit hoher Bildung ist die Wahrscheinlichkeit mit etwa neun Prozent deutlich geringer. Dieses Muster lässt sich für Frauen und Männer gleichermaßen beobachten, ist aber bei Männern stärker ausgeprägt. Deutliche Unterschiede in der Lebenserwartung gibt es auch in Abhängigkeit vom Einkommen. Bei Männern gilt dies für das individuelle Einkommen und das Haushaltseinkommen, bei Frauen nur für das Haushaltseinkommen. Die Hauptursache für den Unterschied zwischen Männern und Frauen liegt in der Erwerbstätigkeit: Frauen mit Kindern unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit häufiger und länger, unabhängig vom Bildungsstatus. Zudem arbeiten sie im Durchschnitt weniger Stunden, in der Regel wegen der Betreuung von Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen, und erzielen dadurch ein geringeres Einkommen.
© DIW Berlin 2025
Die Unterschiede betreffen nicht nur die Lebenserwartung insgesamt, sondern auch die gesunden Lebensjahre. Auswertungen der SOEP-Daten zeigen,Die Daten und die Methode sind im Detail beschrieben in: Johannes Geyer et al. (2021): Pflegebedürftigkeit hängt von der sozialen Stellung ab. DIW Wochenbericht Nr. 44 727–734 (Die Daten und die Methode sind im Detail beschrieben in: Johannes Geyer et al. (2021): Pflegebedürftigkeit hängt von der sozialen Stellung ab. DIW Wochenbericht Nr. 44, 727–734 (online verfügbar)
dass Personen mit hohem Einkommen deutlich mehr Lebensjahre ohne Pflegebedarf verbringen als Personen mit niedrigem Einkommen (Abbildung 2). Bei armutsgefährdeten Männern (die also weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben), tritt eine Pflegebedürftigkeit im Durchschnitt knapp sechs Jahre früher ein als bei wohlhabenden Männern (mindestens 150 Prozent des Medianeinkommens), die ohnehin eine höhere Lebenserwartung haben. Bei Frauen beträgt der Unterschied knapp drei Jahre.
Die Ungleichheit der Sterbewahrscheinlichkeit und des Pflegerisikos, die deutlich mit dem Einkommen korreliert, hat wichtige Implikationen für zukünftige Reformen des Rentensystems und der Pflegeversicherung.
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Grundsätzlich gilt im deutschen Rentensystem das Prinzip der Beitragsäquivalenz: Vereinfacht ausgedrückt besagt dieses Prinzip, dass die zu erwartenden Rentenleistungen in einem proportionalen Verhältnis zu den eingezahlten Beiträgen stehen sollen. Versicherte, die mehr und länger eingezahlt haben, erhalten auch eine höhere Rente. Problematisch ist, dass die Lebenserwartung so stark mit dem Einkommen zusammenhängt, auf dem die Rente im Wesentlichen beruht.
Die systematischen Unterschiede in der Lebenserwartung führen zu Verteilungseffekten im Rentensystem. Personen mit hohem Erwerbseinkommen beziehen im Durchschnitt länger Rente als Personen mit niedrigem Erwerbseinkommen. Dies führt zu einer Umverteilung im Rentensystem von Versicherten mit niedrigem Einkommen zu Versicherten mit hohem Einkommen. Dieser Zusammenhang ist bei Männern besonders ausgeprägt, da die Unterschiede in den Erwerbseinkommen größer sind und das Einkommen stark mit der Bildung zusammenhängt. Dieser Zusammenhang besteht auch bei Frauen. Er zeigt sich jedoch nicht über die eigenen Rentenansprüche, da heutige Rentnerinnen unabhängig von ihrer Bildung häufig ihre Erwerbskarriere unterbrochen haben und auf das Einkommen ihres Partners und damit auf das Haushaltseinkommen angewiesen sind. Frauen mit höherem Haushaltseinkommen haben aber in der Regel auch höhere Hinterbliebenenrentenansprüche und profitieren somit länger vom Rentensystem.
Die Diskussion über künftige Rentenreformen sollte diese Unterschiede berücksichtigen. Denn häufig wird mit dem Äquivalenzprinzip gegen Umverteilungsmaßnahmen in der gesetzlichen Rentenversicherung argumentiert. Berücksichtigt man den Zusammenhang zwischen Einkommen und Lebenserwartung, relativiert sich dieser Einwand. Argumente gegen die Aufwertung niedriger Rentenansprüche zur Bekämpfung von Altersarmut oder zur Anerkennung der beruflichen Lebensleistung sind daher wenig überzeugend. Auch die Forderung nach einer progressiven Rentenformel, die das Rentenniveau für Personen mit niedrigen Renten stabilisiert, für Personen mit höheren Renten aber eine Kürzung zulässt, kann mit Hilfe dieses empirischen Befunds gerechtfertigt werden.
Unterschiede in der Lebenserwartung und im Pflegerisiko wirken sich auch auf die Pflegeversicherung aus. Die gesetzliche Pflegeversicherung in Deutschland deckt nur einen Teil der Pflegekosten ab. Vor allem bei stationärer, aber auch bei teilstationärer und ambulanter Pflege fallen daher erhebliche private Kosten an. Darüber hinaus ist die informelle Pflege häufig mit zeitlichen, physischen und psychischen Belastungen für die pflegenden Angehörigen verbunden. Da Personen mit niedrigem Haushaltseinkommen oder hoher beruflicher Belastung ein höheres Pflegerisiko aufweisen, fallen die Kosten für diese Gruppe häufiger an und reduzieren das ohnehin geringere verfügbare Einkommen. Die bestehenden sozialen Sicherungssysteme gleichen diese ungleichen Belastungen nur teilweise aus. Die gesetzliche Pflegeversicherung unterstützt Pflegebedürftige vor allem durch ein einkommensunabhängiges Pflegegeld und Sachleistungen. Darüber hinaus übernimmt die Sozialhilfe in Form der „Hilfe zur Pflege“ die Pflegekosten, wenn ein Haushalt die privaten Kosten nicht tragen kann.
Um Ungleichheiten aufgrund unterschiedlicher Pflegerisiken zu reduzieren, sind daher sozialpolitische Reformen notwendig. Neben einer nachhaltigen Politik, die bereits in der Erwerbsphase ansetzt, um Ungleichheiten abzubauen und zum Beispiel die Belastungen im Beruf zu reduzieren, sind kurzfristige Reformen zentral. Die Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung sollten ausgebaut werden und auch die Qualität und das Angebot in der Pflege verbessert werden. Diese Reformen kosten allerdings Geld. Statt einer generellen Leistungsausweitung könnte daher auch innerhalb des Pflegesystems umverteilt werden. Beispielsweise könnten private Zuzahlungen stärker vom verfügbaren Einkommen abhängig gemacht werden. In die gleiche Richtung geht der Vorschlag einer Bürgerversicherung, also einer Kombination aus privater und gesetzlicher Pflegeversicherung, da das Pflegerisiko bei privat Versicherten deutlich geringer ist als bei gesetzlich Versicherten und das Einkommen der privat versicherten Personen deutlich über dem Einkommen der Sozialversicherten liegt. In der Pflegeversicherung wäre eine Bürgerversicherung einfacher umzusetzen als in der Krankenversicherung, da es keine Unterschiede im Leistungsrecht gibt. Bei allen finanziellen Reformen muss aber auch stärker darauf geachtet werden, dass Menschen mit einem hohen Pflegerisiko, aber niedrigem Einkommen, die gleiche Qualität der Pflege erhalten wie Menschen mit höherem Einkommen.
Themen: Verteilung, Gesundheit, Arbeit und Beschäftigung