DIW Wochenbericht 16/17 / 2025, S. 245
Kerstin Bernoth, Erich Wittenberg
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Frau Bernoth, für den Zeitraum von Januar 2019 bis März 2025 haben Sie die Kommunikation der Europäischen Zentralbank (EZB) untersucht und zwar mit Hilfe von KI. Was genau haben Sie die KI analysieren lassen und warum haben Sie das getan? Wir haben mithilfe eines Textanalyse-Programms die offiziellen geldpolitischen Stellungnahmen der EZB untersucht. Dabei handelt es sich im Prinzip um den Begleittext, den die EZB zu ihren geldpolitischen Entscheidungen veröffentlicht. Das Programm nimmt sich jeden Satz dieser Stellungnahmen einzeln vor und analysiert, ob er ein Signal für eine restriktive, eine expansive oder eine neutrale Geldpolitik ist. Diese Bewertungen werden aggregiert, sodass wir am Ende sagen können, dass eine Stellungnahme im Durchschnitt zum Beispiel auf eine restriktive Geldpolitik hindeutet, was darauf schließen ließe, dass die EZB ihre Zinsen anheben wird.
Analyst*innen versuchen seit jeher, die Aussagen der Zentralbank zu interpretieren, um zu ergründen, wie sich die Geldpolitik in den nächsten Monaten entwickeln wird. Kann eine KI versteckte Hinweise besser deuten? Ja. Der mithilfe der KI ermittelte Tonfall in den geldpolitischen Stellungnahmen hat tatsächlich eine Vorhersagekraft für die anstehende Zinsentscheidung in der nächsten EZB-Ratssitzung. Das gilt aber nur für die nächste anstehende Zinsentscheidung und nicht für die darauffolgenden. Das bedeutet, dass die EZB in ihrem Statement zusätzliche Informationen liefert, aus denen abgeleitet werden kann, wie es mit den Leitzinsen im nächsten Monat weitergeht. Wenn wir also den Tonfall der Kommunikation berücksichtigen, verbessern wir die Prognosegenauigkeit von Zinsänderungen für die jeweils nächste EZB-Ratssitzung.
Inwieweit hat sich der Ton in den geldpolitischen Erklärungen der EZB in Ihrem Untersuchungszeitraum geändert? Vor und auch während der Coronapandemie war der Tonfall in den EZB-Stellungnahmen expansiv. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn wir berücksichtigen, dass wir im Euroraum eine starke wirtschaftliche Kontraktion hatten und auch eine sehr niedrige Inflation. Ab Ende 2020 begann die Inflation kontinuierlich zu steigen, aber die EZB kommunizierte weiterhin auf einem recht expansiven Niveau. Das ging bis Ende 2021 so weiter, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Inflation schon deutlich über dem Inflationsziel von zwei Prozent lag. Das passt zum Teil zu dem häufig erhobenen Vorwurf, dass die EZB zu spät auf den Anstieg der Inflation reagieren würde. Die EZB hat dann weiterhin eher expansiv kommuniziert. Erst ab 2021 drehte die Kommunikation von expansiv auf restriktiv. Mitte 2022 hat die EZB ja dann auch begonnen, ihre Zinsen kontinuierlich zu erhöhen.
Wäre es denkbar, dass die Möglichkeit der KI-gestützten Tonfall-Analyse Rückwirkungen auf die Kommunikation der EZB hat und diese ihre Kommunikation verändert? Das kann ich mir durchaus vorstellen. Die EZB weiß auch, dass jeder Satz, den sie von sich gibt, genau analysiert wird und dass man genau zuhört: Was hat sie hier gesagt? Gibt es ein Signal für zukünftige Zinsentscheidung? Die EZB wird auch selbst versuchen, mittels KI ihre eigenen Reden, ihre eigenen Statements und Stellungnahmen zu analysieren, um zu wissen, was die Finanzmärkte oder die die Marktbeobachter mithilfe ihrer Programme daraus analysieren könnten.
Das heißt, die EZB würde die Software, die Sie benutzt haben, auch selbst anwenden? Ja, das denke ich. Die Zentralbanken arbeiten auch mit diesen Textanalyseprogrammen und werden diese natürlich jetzt genauso anwenden, um herauszufinden, was die Märkte aus ihren Reden herauslesen.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Geldpolitik, Finanzmärkte, Europa, Digitalisierung