Grundgesetzänderung allein macht Deutschland nicht zukunftsfähig: Kommentar

DIW Wochenbericht 16/17 / 2025, S. 250

Marcel Fratzscher

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Die im März erfolgte Grundgesetzänderung zu Sondervermögen und Schuldenbremse ist ein Paradigmenwechsel für Politik und Gesellschaft. Sie korrigiert ein Stück weit die deutsche Obsession mit Schulden und Sparen. Sie ist ein Eingeständnis, dass Deutschland ohne deutlich mehr öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Verteidigung seinen erheblichen wirtschaftlichen Wohlstand und seine Sicherheit nicht wird gewährleisten können. Dabei ist die Grundgesetzänderung eine pragmatische, aber keineswegs ideale Lösung, um mehr Geld für Zukunftsinvestitionen zur Verfügung zu stellen. Daueraufgaben sollten grundsätzlich immer über den Kernhaushalt finanziert werden. Zudem hebelt ein Sondervermögen die demokratischen Kontrollmechanismen ein Stück weit aus, da es nicht den gleichen Transparenz- und Rechenschaftsanforderungen unterliegt wie der reguläre Haushalt. Darüber hinaus können Sondervermögen auf nationaler Ebene zu Konflikten mit den europäischen Regeln führen. Aber ohne deutlich höhere öffentliche Investitionen wird die Transformation der deutschen Wirtschaft nicht gelingen; viele gute Arbeitsplätze und Wohlstand werden verloren gehen und die jungen und künftigen Generationen werden die Hauptleidtragenden sein.

Die künftige Bundesregierung muss dafür sorgen, dass vor allem bei den Kommunen, die fast die Hälfte aller öffentlichen Investitionen tätigen, ausreichend Geld ankommt. Dies erfordert grundlegende Reformen des Föderalismus und den Aufbau und die Bündelung staatlicher Kapazitäten zur Umsetzung von Infrastrukturprojekten. Es erfordert den Abbau von Bürokratie und Regulierung sowie eine deutlich höhere Geschwindigkeit bei Genehmigungsverfahren. Darüber hinaus muss die Bundesregierung wichtige Strukturreformen voranbringen, insbesondere in Bezug auf die Sicherung von Fachkräften. Zudem muss jetzt dringend eine grundlegende Reform der Schuldenbremse hin zu einer generationengerechten Schuldenregel folgen. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD macht bei alldem wenig Hoffnung, er geht in vielen Punkten nicht weit genug.

Das gilt auch für die Sozialsysteme, die effizienter werden müssen. In den vergangenen 30 Jahren haben wir eine erhebliche Verteilungsschieflage bekommen. Die politische Antwort auf den demografischen Wandel war fast immer eine noch stärkere Umverteilung von Jung zu Alt. Wir haben aber längst den Punkt überschritten, an dem diese Umverteilung exzessiv geworden ist und wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Das muss jetzt korrigiert werden. Wir brauchen weniger Umverteilung von Jung zu Alt und mehr Umverteilung von Reich zu Arm. Zumal einige unserer Sozialsysteme eher eine Umverteilung von Arm zu Reich bewirken. Menschen mit geringen Einkommen haben beim Renteneintritt eine um fünf bis sechs Jahre geringere Restlebenserwartung als Menschen mit hohem Einkommen. Dadurch und durch das sogenannte Äquivalenzprinzip ist unsere gesetzliche Rente letztlich eine Umverteilung von Arm zu Reich. Kurzum: Wir brauchen dringend Reformen der Sozialsysteme, bei denen starke Schultern wieder einen größeren Anteil der Last tragen.

Neben einer großen Reform der Sozialsysteme sollte eine grundlegende Steuerreform eine zentrale Aufgabe für die neue Bundesregierung sein. In Deutschland wird Arbeitseinkommen hoch besteuert und Vermögen so niedrig wie in kaum einem anderen Land. Damit setzt unser Steuersystem enorme Fehlanreize, es vermindert vor allem die Anreize für Arbeit und fördert die passive Vermögensbildung. Die neue Bundesregierung sollte die geringen und mittleren Einkommen deutlich entlasten, Fehlanreize wie hohe Transferentzugsraten abbauen und gleichzeitig große Vermögen stärker besteuern.

Die erfolgte Grundgesetzänderung ist eine riesige Chance, Deutschland zukunftsfähig zu machen und die seit mehr als einem Jahrzehnt verschleppte wirtschaftliche und soziale Transformation auf den Weg zu bringen. Die neue Bundesregierung muss den Mut haben, mit alten Besitzständen zu brechen, Wahlversprechen einzulösen und Reformen anzustoßen. Derzeit sieht es in weiten Teilen aber leider nach einem „Weiter so“ aus.

Dieser Kommentar ist in ähnlicher Form am 21. März 2025 im Rahmen von „Fratzschers Verteilungsfragen“ bei ZEIT Online erschienen.

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