Blog Marcel Fratzscher vom 26. Mai 2025
Deutschland muss mehr arbeiten, fordern Wirtschaft und Politik. Die Abschaffung eines Feiertags wäre Symbolpolitik – und übersieht das wahre Potenzial des Landes.
Das Gerücht, wir Deutschen seien faul geworden, hält sich hartnäckig – auch wenn das kaum jemand offen ausspricht. Besonders junge Menschen gelten als nicht mehr leistungsbereit. Diese Behauptungen widersprechen nicht nur den Fakten, sondern zeugen auch von einer erstaunlichen Ignoranz gegenüber dem tatsächlichen Potenzial unseres Arbeitsmarkts. Geforderte Maßnahmen wie die geplante Steuerbefreiung von Überstunden oder die Abschaffung eines Feiertags sind fehlgeleitet, denn sie lösen nicht eine der größten wirtschaftlichen Herausforderungen der kommenden Jahre.
Zuallererst: Noch nie wurde in Deutschland so viel gearbeitet wie in den letzten Jahren. Mit über 63 Milliarden geleisteten Arbeitsstunden im Jahr wurde zuletzt ein Rekord erreicht. Das liegt vor allem an der Zuwanderung und einer steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen. Mit über 46 Millionen Erwerbstätigen war die Beschäftigung noch nie höher. Die Deutschen sind also nicht faul. Gleichzeitig haben die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz deutlich zugenommen.
Diese Kolumne von Marcel Fratzscher erschien am 23. Mai 2025 auf ZEIT ONLINE in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.
Angesichts des bereits großen und künftig weiter zunehmenden Arbeitskräftemangels ist es dennoch richtig, nach Lösungen zu suchen und für eine Erhöhung der Arbeitsstunden zu sorgen. Doch der Vorschlag, einen Feiertag abzuschaffen, wird wenig helfen. Ebenso ineffektiv und sogar kontraproduktiv ist die steuerliche Begünstigung von Überstunden für Beschäftigte in Vollzeit. Erfahrungen aus Frankreich zeigen, dass solche Maßnahmen kaum zu mehr Arbeit führen, sondern vor allem Mitnahmeeffekte erzeugen und eine Umverteilung zulasten der Steuerzahler*innen bewirken.
Der Schlüssel zur Erhöhung der Arbeitsstunden liegt ganz woanders: bei der Gleichstellung von Frauen und Männern, bei einer gezielten Zuwanderung und der besseren Integration der über drei Millionen Geflüchteten, bei mehr Investitionen ins Bildungssystem sowie bei Reformen in den Unternehmen selbst.
Ein großes, ungenutztes Potenzial liegt in der Erwerbstätigkeit von Frauen. Besonders in Westdeutschland hat sie in den letzten Jahren deutlich zugenommen und wesentlich zum wirtschaftlichen Erfolg der 2010er-Jahre beigetragen. Doch rund die Hälfte der erwerbstätigen Frauen arbeitet nicht Vollzeit – Deutschland hat eine der höchsten Teilzeitquoten von Frauen weltweit. Das liegt nicht am mangelnden Willen, mehr zu arbeiten. Viele Frauen in Teilzeit geben an, gerne länger arbeiten zu wollen. Doch vor allem die Wirtschaft stellt ihnen zahlreiche Hürden in den Weg. Frauen werden auf dem deutschen Arbeitsmarkt stärker diskriminiert als in vielen anderen Ländern: Der Gender Pay Gap gehört zu den höchsten in Europa, Karrierechancen sind oft schlechter, und sie sind überdurchschnittlich häufig in belastenden, systemrelevanten Berufen tätig.
Das Ehegattensplitting führt dazu, dass Frauen nach der Familiengründung beim Wiedereinstieg oft fast die Hälfte ihres Einkommens durch Steuern und Abgaben verlieren. Gleichzeitig ist die Betreuungssituation in Kitas und Schulen mangelhaft – Eltern, vor allem Mütter, tragen eine ungewöhnlich hohe Last. Hinzu kommt die Ausweitung von Minijobs, die bis 556 Euro monatlich steuer- und abgabenfrei sind. Mehr als sieben Millionen Menschen in Deutschland arbeiten in solchen Jobs – zu häufig sind dies keine Studierenden oder Rentner, sondern Frauen im besten Erwerbsalter.
Ein zweiter Schlüssel liegt in einer gezielten Zuwanderung und besseren Integration der bereits hier lebenden 3,2 Millionen Schutzsuchenden. Ihnen werden bei der Anerkennung von Qualifikationen, beim Zugang zu Sprachkursen, bei der Unterkunft und sozialen Absicherung zahlreiche Steine in den Weg gelegt. Statt über Grenzschließungen und Leistungskürzungen zu diskutieren, sollte die Politik in Integration investieren. Denn nur so kann diese Gruppe schneller in Arbeitsmarkt und Gesellschaft eingebunden werden – und genau das erfordert mehr statt weniger Investitionen in diese Menschen.
Deutschland muss zudem attraktiver für junge Zuwandernde werden – nicht nur für Hochqualifizierte. Um den Arbeitskräftemangel zu bewältigen, benötigen wir jährlich eine Nettozuwanderung von rund 400.000 Arbeitskräften.
Ein vierter Hebel liegt in einem Umdenken und stärkeren Fokussierung auf der Qualität statt der Quantität von Arbeit. Das Problem ist nicht die fehlende Bereitschaft zu arbeiten, sondern eine schwache Produktivitätsentwicklung. Viele Unternehmen haben in den letzten zwei Jahrzehnten zu wenig in Qualifizierung, Digitalisierung und neue Technologien investiert. Statt auf die Politik zu zeigen, sollten sie selbst aktiv werden: Beschäftigte fördern, Prozesse entschlacken, moderne Arbeitsweisen etablieren. Wer nur auf Leistungsbereitschaft pocht und Überstunden fordert, verliert junge, motivierte Menschen als potenzielle Mitarbeitende. Der Arbeitgebermarkt ist passé. Unternehmen müssen sich künftig stärker an den Bedürfnissen ihrer Beschäftigten orientieren, um attraktiv zu bleiben.
Der wachsende Arbeitskräftemangel stellt die vielleicht größte wirtschaftliche Herausforderung Deutschlands in den kommenden Jahren dar. Er betrifft die Zukunft des Mittelstands, gute Arbeitsplätze, die Wettbewerbsfähigkeit und die Finanzierung der Sozialsysteme. Deutschland braucht kein unsinniges Lamentieren über fehlende Leistungsbereitschaft von jungen Menschen. Deutschland braucht kluge Verantwortliche in Politik und Wirtschaft, die insbesondere auf die Bedürfnisse von jungen Menschen, Frauen, Migranten und all jenen eingehen, denen früh im Leben viele Chancen auf Bildung und Teilhabe verwehrt wurden.
Themen: Arbeit und Beschäftigung