DIW Wochenbericht 27/28 / 2025, S. 444
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Der Mindestlohn soll in den kommenden beiden Jahren in zwei Schritten auf 14,60 Euro steigen. Damit ist die Mindestlohnkommission unter der im Koalitionsvertrag festgelegten Zielmarke der Bundesregierung von 15 Euro geblieben. Kaum ein Thema wird so kontrovers diskutiert wie die Frage, ob ein deutlich höherer Mindestlohn der deutschen Wirtschaft schadet oder nicht. Höchste Zeit, mit fünf häufig vorgebrachten Mythen rund um den Mindestlohn aufzuräumen.
Erstens: Ein höherer Mindestlohn sorgt nicht für eine steigende Arbeitslosigkeit. Seit Einführung der gesetzlichen Lohnuntergrenze im Jahr 2015 ist die Beschäftigung stark gewachsen, die Arbeitslosigkeit gleichzeitig gesunken. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Löhne im Niedriglohnbereich vor dem Mindestlohn aufgrund der geringen Verhandlungsmacht der Beschäftigten deutlich Luft nach oben hatten. Zudem hat der Mindestlohn zu einer Umverteilung von Beschäftigung geführt, weg von weniger produktiven hin zu produktiveren Unternehmen. Einige Unternehmen konnten den Mindestlohn nicht zahlen, doch die betroffenen Beschäftigten fanden besser bezahlte Jobs in anderen Unternehmen. Zudem senkt ein höherer Mindestlohn die Fluktuation in Unternehmen, die Mitarbeiterbindung nimmt zu und dadurch auch die Produktivität. Weniger Personalwechsel bedeuten niedrigere Kosten und höhere Effizienz – ein Gewinn auch für viele Unternehmen. Und: In Deutschland herrscht kein Mangel an Jobs, sondern ein Mangel an Arbeitskräften. Ein höherer Mindestlohn könnte den deutschen Arbeitsmarkt attraktiver machen, gerade auch für Arbeitskräfte aus dem Ausland.
Ein weiterer Mythos lautet, der Mindestlohn sei ein unzulässiger Eingriff in einen funktionierenden Markt und widerspreche der Marktwirtschaft. Tatsächlich stärkt der Mindestlohn aber den fairen Wettbewerb um Arbeitskräfte und fördert Effizienz und Produktivität. Der Mindestlohn gefährdet – entgegen Mythos 3 – auch nicht die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Zum großen Teil geht es um Dienstleistungsjobs etwa in der Gastronomie, im Einzelhandel oder in der Pflege. Deren Leistungen lassen sich gar nicht ins Ausland verlagern. Wenn deutsche Unternehmen Arbeitsplätze ins Ausland verlagern, dann sind das oft solche, die hierzulande weit über Mindestlohn bezahlt wurden. Der Mindestlohn setzt auch keine Lohn-Preis-Spirale in Gang. Zwar stimmt es, dass manche Unternehmen ihre Preise aufgrund gestiegener Lohnkosten erhöhen mussten, etwa im (Lebensmittel-)Einzelhandel oder in der Gastronomie. Doch diese Effekte sind begrenzt. Der Mindestlohn führt in erster Linie zu einer Umverteilung von Einkommen, von Besserverdienenden zu Geringverdienenden. Das ist wirtschaftlich nicht schädlich.
Ein letzter Mythos betrifft die Rolle der Politik: Die Mindestlohnkommission sei unabhängig, die Politik solle sich heraushalten. Doch die Realität sieht anders aus. Die Kommission besteht aus jeweils drei Vertreter*innen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite sowie einer unabhängigen Vorsitzenden. Diese Interessengegensätze zeigen: Die Kommission ist nicht völlig unabhängig, sondern stark von sozialen Aushandlungsprozessen geprägt. Laut Satzung soll sich die Kommission bei der Festlegung des Mindestlohns „nachlaufend an der Tarifentwicklung“ orientieren. Gleichzeitig ignoriert sie mit ihrer aktuellen Entscheidung die Vorgabe der EU, den Mindestlohn bei etwa 60 Prozent des Medianlohns festzulegen – was je nach Berechnung rund 15 Euro pro Stunde entspräche.
Unter dem Strich lässt sich sagen, dass der Mindestlohn nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine große soziale Bedeutung hat. Etwa zehn Millionen Beschäftigte würden direkt oder indirekt von einem Mindestlohn in Höhe von 15 Euro profitieren. Die Zahl der Aufstocker – also der Menschen, die trotz Arbeit nicht ohne Sozialleistungen über die Runden kommen – ist 2024 nach vorherigen Rückgängen wieder gestiegen, auch weil der Mindestlohn mit der Entwicklung der Lebenshaltungskosten nicht Schritt gehalten hat. Auch deshalb ist die Entscheidung der Mindestlohnkommission eine verpasste Chance – wirtschaftlich wie sozial.
Dieser Kommentar ist im Rahmen von „Fratzschers Verteilungsfragen“ am 27. Juni 2025 zuerst bei ZEIT Online erschienen.
Themen: Arbeit und Beschäftigung