DIW Wochenbericht 29 / 2025, S. 460
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Die Debatte über die Zukunft der deutschen Industrie kreist derzeit vor allem um hohe Energiekosten, überbordende Bürokratie und die Herausforderungen der grünen Transformation. Dabei wird eine weit gravierendere Bedrohung übersehen: der Klimawandel. Nicht die Energiewende gefährdet die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland, sondern die wirtschaftlichen Folgen der Erderwärmung. Besonders anfällig sind die Industrie und ihre komplexen Lieferketten. Extremwetter wie anhaltende Dürre oder Starkregen verursachen bereits Schäden in Milliardenhöhe durch unterbrochene Transportwege. Die Rhein-Niedrigwasser-Krise von 2018 führte allein bei BASF zu Mehrkosten von 250 Millionen Euro – ein Vorbote künftiger Entwicklungen.
Noch unmittelbarer trifft die Hitze die Menschen selbst. Im Sommer 2022 starben in Deutschland über 8000 Menschen infolge hoher Temperaturen – mehr als durch Verkehrsunfälle, Grippe und Drogen zusammen. Studien zeigen zudem, dass die Hitze die Arbeitsproduktivität, besonders in Industrie und Bau, um bis zu zehn Prozent senken kann. Nach Schätzungen des Bundesarbeitsministeriums gehen allein durch Hitze jährlich rund drei Millionen Arbeitstage verloren – Tendenz steigend. Die volkswirtschaftlichen Kosten dieser Produktivitätsverluste summieren sich laut einer Studie der Europäischen Umweltagentur in Deutschland bereits auf rund sieben Milliarden Euro jährlich. Die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 war nicht nur eine menschliche Tragödie mit über 180 Todesopfern. Auch wirtschaftlich hinterließ sie tiefe Spuren: Der Schaden belief sich laut Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft auf mehr als 33 Milliarden Euro – versichert war davon lediglich ein Drittel. Die verbleibenden Kosten trugen der Staat und die betroffenen Haushalte.
Zudem bedroht die Klimakrise die natürlichen Grundlagen unserer Wirtschaft. Besonders deutlich zeigt sich das in der Landwirtschaft. Laut dem Thünen-Institut sanken die Erträge von Getreide und Mais in den Dürrejahren 2018, 2019 und 2022 im Schnitt um bis zu 25 Prozent. Eine Studie des Umweltbundesamtes warnt, dass der wirtschaftliche Verlust durch Biodiversitätsrückgang und Bodenverschlechterung bis 2050 auf 20 bis 30 Milliarden Euro pro Jahr steigen könnte. Diese Entwicklungen erzeugen nicht nur steigende Kosten, sondern auch Unsicherheit – eine zentrale wirtschaftliche Kategorie. Unternehmen stellen vermehrt infrage, ob Deutschland noch die nötige Infrastruktur, Widerstandsfähigkeit und Planungssicherheit bietet. Eine Umfrage der Europäischen Investitionsbank (EIB) zeigt, dass 64 Prozent aller EU-Firmen Verluste durch den Klimawandel erleiden.
Viele wirtschafts- und industriepolitische Debatten greifen zu kurz, weil sie den Klimawandel als rein ökologisches Problem behandeln. Der Widerstand gegen Klimaschutz, wie er sich in populistischen Erzählungen zunehmend manifestiert, ist daher nicht nur ökologisch kurzsichtig, sondern ökonomisch kontraproduktiv. Umso dringlicher ist ein Kurswechsel. Vorrang muss jetzt der kluge Einsatz des 500-Milliarden-Euro-Sondervermögens der Bundesregierung sein: Investitionen in klimaresiliente Infrastrukturen sollten oberste Priorität haben. Verkehrswege, Wasserstraßen und Stromnetze müssen gezielt im Hinblick auf Klimaanpassung modernisiert werden. Jeder Euro für Klimaschutz spart bis zu sieben Euro an Folgekosten durch Schäden. Auch ein "Klimasoli", wie ich ihn vorgeschlagen habe, gehört auf die politische Agenda. Gleichzeitig braucht es stärkere Anreize für die sozial-ökologische Transformation. Statt fossile Strukturen weiter zu subventionieren – wie zuletzt in der Agrarpolitik – sollte Förderpolitik gezielt Innovation, Energieeffizienz und Anpassungsstrategien unterstützen.
Deutschland steht an einem wirtschaftspolitischen Scheideweg. Die zentrale Frage ist nicht, ob wir uns Klimaschutz leisten können – sondern ob wir uns die Kosten des Nichthandelns leisten wollen. Die ökologische Transformation ist keine Last, sondern unsere ökonomische Überlebensstrategie.
Dieser Kommentar ist im Rahmen von „Fratzschers Verteilungsfragen“ am 11. Juli 2025 zuerst bei ZEIT online erschienen
Themen: Öffentliche Finanzen, Konjunktur, Klimapolitik, Industrie