Neue Grundsicherung: Schmaler Grat zwischen Fordern und Überfordern: Kommentar

DIW Wochenbericht 42 / 2025, S. 676

Jürgen Schupp

get_appDownload (PDF  105 KB)

get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF  3.49 MB - barrierefrei / universal access)

Die schwarz-rote Koalitionsspitze hat sich auf die Rückabwicklung von Teilen der gesetzlichen Bürgergeldregelungen geeinigt. Im Zentrum stehen die Mitwirkungspflichten bei der künftigen „Grundsicherung für Erwerbsfähige“, wie es fortan anstelle von Bürgergeld heißen soll. Wer sich nicht an die Mitwirkungspflichten hält, muss mit Konsequenzen rechnen. Künftig werden Leistungen bereits beim ersten Verstoß um 30 Prozent gekürzt. Das bisherige Stufenmodell mit einer schrittweisen Erhöhung von erst zehn, dann 20 und erst danach 30 Prozent wird also durch sofort härtere Sanktionen ersetzt. Zudem wurde verabredet, dass nicht nur die Geldleistungen, sondern in einem letzten Schritt auch die Übernahme der Wohnkosten vollständig eingestellt werden können. Die Koalition bewegt sich damit auf einem verfassungsrechtlich sehr schmalen Grat zwischen Fordern und möglichen Überfordern von Menschen in einer schwierigen Lebenslage.

Das Bundesverfassungsgericht hat im November 2019 klargestellt, dass Sanktionen nur dann verfassungsgemäß sind, wenn die Minderung der Leistungen nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres 30 Prozent des Regelbedarfs nicht übersteigt. Zudem wurden Sanktionen als unverhältnismäßig eingeordnet, wenn die Sanktionsdauer von drei Monaten nicht verkürzt werden kann, sobald der*die Leistungsberechtigte seine*ihre Mitwirkung nachholt oder die ernsthafte Bereitschaft dazu erklärt. Das Gericht hat weiterhin verdeutlicht, dass die Mitwirkung das Ziel der Sanktion ist. Deshalb muss auch deren Nachholung entsprechend gewürdigt werden. Zudem werden sich Jobcenter-Beschäftigte auch künftig vergewissern müssen, dass der Grund für die Vernachlässigung von Mitwirkungspflichten zweifelsfrei nicht darin liegt, dass der Leistungsbeziehende in einer sehr tiefen gesundheitlichen oder psychischen Problemlage steckt, wegen eines plötzlichen Krankenhausaufenthalts nicht erreichbar ist oder andere triftige Gründe vorliegen.

Eine bereits derzeit in vielen Jobcentern genutzte juristische Hilfsbrücke, um verwaltungsaufwendige Leistungsminderungen zu umgehen, ist die „vorläufige Leistungseinstellung“. Dieses in der Fachöffentlichkeit wenig bekannte, aber gleichwohl häufig praktizierte Verfahren fußt allerdings auf einer Reihe an Annahmen. Gemeinsam ist diesen Annahmen die „vermeintliche“ Kenntnis darüber, dass die Voraussetzungen für den Bezug der Grundsicherung überhaupt nicht mehr vorliegen. Dies erlaubt dann auch den Wegfall oder ein Ruhen des Anspruchs. Im Gegensatz zu sanktionsbedingten Kürzungen müssen die Leistungen unverzüglich nachgezahlt werden, sobald der Grund wegfällt oder sich die getroffene Annahme als nicht zutreffend herausstellt.

Vor diesem Hintergrund wird es im für den Herbst anstehenden Gesetzgebungsverfahren sehr genau auf die konkrete Ausformulierung ankommen. Der Knackpunkt dürfte sein, ob sich die geplanten vollständigen Leistungskürzungen allein auf Vermutungen stützen werden oder Wissen und Fakten seitens der Jobcenter voraussetzen und die verfassungsmäßigen Beschränkungen erfüllt bleiben. Denn es wäre nichts gewonnen, wenn neue Rechtsnormen geschaffen würden, die zwar vordergründig zu Einsparungen staatlicher Leistungen führen, aber durch eine sprunghaft steigende Zahl an Widersprüchen und sozialrechtlichen Prozessen mehr als kompensiert würden.

Doch selbst wenn es gelingt, eine verfassungskonforme „Anschärfung“ der Mitwirkungspflichten im Neuen Grundsicherungsgesetz mit Wirkung zum Frühjahr 2026 zu verankern, wird dies – bestenfalls – nur zu geringen Einsparungen im Bundeshaushalt führen. Ein Blick auf die soziodemografische und qualifikatorische Struktur der gegenwärtig rund 5,4 Millionen Leistungsberechtigten sowie die sehr hohe Quote diverser Vermittlungshemmnisse bei der Gruppe der Arbeitslosen, die dem Arbeitsmarkt unmittelbar zur Verfügung stehen, lässt den Schluss zu: Es scheint wenig wahrscheinlich, dass es im Jahr 2026 gelingen wird, eine sechsstellige Zahl von Personen aus dem Leistungsbezug in Beschäftigung vermitteln zu können.

Jürgen Schupp

Wissenschaftler in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

keyboard_arrow_up