Einstellungen zu Geschlechterrollen werden bei Jüngeren in manchen Ländern wieder traditioneller

DIW Wochenbericht 45 / 2025, S. 711-717

Lukas Menkhoff, Katharina Wrohlich

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  • Studie untersucht Veränderungen von Einstellungen zur Gleichstellung von Frauen in den Bereichen Bildung, Arbeit und Politik weltweit und über die Zeit
  • Zustimmung zur Gleichstellung ist tendenziell umso höher, je höher das Pro-Kopfeinkommen in einem Land ist
  • Weltweit wie auch in Deutschland nehmen egalitäre Einstellungen im Trend zu
  • In fast allen Ländern ist die Zustimmung zur Gleichstellung bei Jüngeren höher; dieser Effekt ist bei den jüngsten Jahrgängen geringer oder kehrt sich um, wie etwa in Italien und Polen
  • Trend zu stärker egalitären Einstellungen schwächt sich in Deutschland und vielen europäischen Ländern ab

„In Deutschland hat sich ein relativ egalitäres Rollenbild etabliert, das aber in den letzten Jahrzehnten an eine Grenze stößt. Weltweit sind die Unterschiede größer geworden. Einige Länder modernisieren sich weiter, andere bleiben sehr traditionell; in manchen Ländern sind die Jüngeren wieder traditioneller als ihre Eltern.“ Lukas Menkhoff

Die Einstellungen zur Rolle von Frauen und Männern in Wirtschaft und Gesellschaft haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland und den meisten Ländern der Welt modernisiert. Zuletzt hat sich dieser Prozess jedoch deutlich verlangsamt und mancherorts sogar umgekehrt: In den meisten Ländern sind die Einstellungen der in Befragungen berücksichtigten jüngsten zehn Jahrgänge kaum noch moderner als die der zehn Jahrgänge davor. In etwa einem Drittel der Länder ist der Trend bezogen auf die jüngsten 20 Jahrgänge sogar negativ. Dies deutet darauf hin, dass Einstellungen zu Geschlechterrollen mancherorts wieder traditioneller werden. Die Uneinheitlichkeit in der weltweiten Entwicklung könnte sich verstärken. Selbst in Europa deutet sich in manchen Ländern eine Umkehr an. In Deutschland schreitet die Modernisierung derzeit noch voran, doch dieser Prozess verlangsamt sich und kann möglicherweise auch hierzulande zum Stillstand kommen.

Die Einstellungen zur Rolle von Frauen und Männern in Wirtschaft und Gesellschaft haben sich in Deutschland in den vergangenen 75 Jahren stark verändert. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sind die Einstellungen egalitärer geworden. Diese Art der Modernisierung ist in der deutschen Gesellschaft sowie den Nachbarländern nahezu selbstverständlich geworden.infoVgl. hierzu Ronald Inglehart und Pippa Norris (2003): Rising Tide: Gender Equality and Cultural Change around the World. Cambridge; Johannes Bergh (2007): Gender Attitudes and Modernization Processes. International Journal of Public Opinion Research, 19 (1), 5–23; Stephanie Seguino (2007): Plus Ca Change? Evidence on Global Trends in Gender Norms and Stereotypes. Feminist Economics, 13(2), 1–28. Inwiefern dies auch weltweit zutrifft, wird in diesem Bericht anhand der repräsentativen Daten von mehr als 80 Ländern, die die fast 85 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, über die letzten Jahrzehnte untersucht.

Einstellungen werden mit Befragungen zu drei Lebensbereichen gemessen

Die Einstellungen zur Rolle von Frauen und Männern in einer Gesellschaft haben viele Aspekte, die in einer empirischen Messung immer nur näherungsweise erfasst werden können. Um verschiedene Lebensbereiche abzubilden, werden im Folgenden die Einstellungen in drei Bereichen erfasst: Bildung, Arbeit und Politik. Für jeden Bereich wird eine Aussage gewählt, zu der sich die Menschen zustimmend oder ablehnend äußern können. Konkret handelt es sich um die folgenden Aussagen zu den Bereichen Bildung, Arbeit und Politik:infoDies lässt die private Sphäre unberücksichtigt und kann auch in den drei angesprochenen Bereichen nicht alle Aspekte erfassen. „Universitätsbildung ist für Jungen wichtiger als für Mädchen“, „Männer sollten bei Jobknappheit mehr Recht auf einen Job haben als Frauen“, „Männer sind bessere politische Führungspersonen als Frauen“.

Die Antwortmöglichkeiten werden immer in einer Spanne erhoben und so vereinheitlichend kodiert, dass sie zwischen null und eins liegen. Höhere Werte bedeuten eine Ablehnung der Aussage und werden als modernere Einstellung interpretiert. Auf dieser Basis wird ein Index („Egalitätsindex“) gebildet, in den die drei berücksichtigten Einstellungen gleichgewichtet eingehen. Diese werden durch die Anzahl der Einstellungen geteilt, so dass auch der Wert des Index zwischen null und eins liegen muss.infoIn einer früheren Publikation wurde für den Egalitätsindex (beziehungsweise den Score des Frauenbilds) als vierte Dimension noch eine Einstellung zum Thema Familie berücksichtigt. Für diesen Aspekt liegen nicht genügend Beobachtungen vor, um ihn über die Zeit in vielen Ländern berücksichtigen zu können. Vgl. Lukas Menkhoff und Katharina Wrohlich (2024): Einstellungen zu Geschlechterrollen sind in Deutschland im Laufe der Zeit egalitärer geworden. DIW Wochenbericht, Nr. 46, 717–724 (online verfügbar, abgerufen am 10. Oktober 2025. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt).

Datengrundlage erlaubt weltweiten Vergleich

Die Daten, die dieser Studie zugrunde liegen, stammen vom World Value Survey.infoDie Autor*innen danken Farid Orangi für wertvolle Unterstützung bei der Datenaufbereitung sowie Julia Redelings für die Literaturrecherche. Diese Befragung wird etwa alle fünf Jahre weltweit mit einem im Kern identischen Fragebogen durchgeführt. Nicht immer nehmen dieselben Länder teil, und in jedem Land können die Anzahl und Inhalte der Fragen variieren. So ergibt sich eine wiederholte Stichprobe, die mit den erwähnten Einschränkungen ein gutes Bild über Einstellungen in der Welt gibt. Seit dem Jahr 1980 ist sie in sieben Wellen wiederholt worden. Die Auswahl der obigen Aussagen ist nicht nur inhaltlich begründet, sondern nimmt zudem auf die Datenverfügbarkeit Rücksicht (Kasten).

Der World Value Survey (WVS) findet etwa alle fünf Jahre statt. Die Teilnahme von Ländern steigt tendenziell über die Zeit, ist aber unregelmäßig. Ferner werden nicht immer und in jedem Land Einstellungen zu denselben Aussagen abgefragt. Dies bedeutet, dass man bei einer Untersuchung über Länder und die Zeit hinweg (das heißt, bei einem Panel) einen Trade-off zwischen breiter Abdeckung versus Vollständigkeit der Einstellungen hat. Erst ab der dritten Welle des WVS werden Einstellungen zu wenigstens drei der vier interessierenden Aussagen zu Geschlechterrollen erhoben, bis zur zweiten Welle nur für eine. Einstellungen zu vier Aussagen liegen in guter Abdeckung allerdings nur für die letzte Welle vor. Insofern wird hier der Egalitätsindex aus den Einstellungen zu drei Aussagen gebildet.

Für Analysen über die Zeit hinweg stehen daher fünf Wellen zur Verfügung, von der dritten Welle um 1995 herum bis zur siebten Welle der Jahre 2017–2022. Länder, die nur in einer Welle zu den Aussagen beitragen, werden aus der Analyse ausgeschlossen. Ferner werden nur Länder berücksichtigt, deren jüngste Information für die sechste oder siebte Welle vorliegt. Mit diesen weiteren Einschränkungen ergibt sich ein Panel mit 83 Ländern, das immerhin fast 85 Prozent der Weltbevölkerung und 93 Prozent des Welt-Bruttoinlandsprodukts abbildet.

Im letzten Schritt werden fehlende Angaben vor der dritten Welle im Jahr 1995 anhand der Antworten der Geburtsjahrgänge abgeschätzt.

Der Egalitätsindex in der zuletzt erhobenen siebten Welle, also je nach Land in den Jahren 2017 bis 2022, kann für 87 Länder berechnet werden, die 88 Prozent der Weltbevölkerung und 95 Prozent des Welt-BIP ausmachen (Abbildung 1). Im Jahr 2022 beträgt das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland 53800 US-Dollar, der Egalitätsindex liegt bei 0,85 (zuletzt ermittelt in 2017). Weltweit ist ein positiver Zusammenhang zwischen höheren Einkommen und moderneren Einstellungen erkennbar. Besonders deutlich trifft dies auf die nordischen Länder zu.

Abweichungen vom großen Bild können sich in zwei Richtungen ergeben: Bei hohen Einkommen kann der Wert des Egalitätsindex vergleichsweise niedrig ausfallen. Dies gilt zum Beispiel für die Schweiz oder Japan. Umgekehrt kann bei niedrigeren Einkommen der Wert des Index ungewöhnlich groß sein. Dies ist für Länder wie Kenia, Albanien oder Brasilien der Fall.

Geschlechterrollen sind in der Welt über die Periode 1955–2020 moderner geworden

Im nächsten Schritt soll die Veränderung der Geschlechterrollen in der Welt erfasst werden. Dazu kann man für jedes Land und jede Welle, in der Daten verfügbar sind, den Egalitätsindex berechnen. Da dieser auf die Spanne zwischen null und eins normiert ist, lässt er sich über Zeit und Länder hinweg vergleichen.

Einstellungen zu Geschlechterrollen zu Beginn und Ende der Datenerhebung deutlich unterschiedlich

In einer ersten Analyse möglicher Änderungen über die Zeit werden alle Länder mit Werten für die dritte (ersatzweise vierte) und siebte (ersatzweise sechste) Welle erfasst. Die zeitlichen Schwerpunkte dieser frühen und späten Werte liegen um 1995 beziehungsweise um 2020 herum. Für diese Zeitpunkte werden die Verteilungen der Indexwerte für alle beteiligten Länder berechnet (Abbildung 2). Die neuesten Werte liegen deutlich rechts von den älteren Werten. Demnach haben sich weltweit zwischen 1995 und 2020 die Einstellungen zu den Geschlechterrollen modernisiert. Der Mittelwert ist von 0,53 auf 0,62 gestiegen. Für Deutschland stieg der Wert von 0,74 auf 0,85.

Um den Einfluss durch eine andere Zusammensetzung der Länder auszuschließen, werden zusätzlich nur die Länder betrachtet, für die wenigstens zweimal Informationen zum Egalitätsindex vorliegen (Abbildung 2). Beide Verteilungen entsprechen grob denjenigen für alle verfügbaren Länder.

Auffällig ist neben dem Anstieg der Mittelwerte der Anstieg der Streuung im Vergleich der beiden Verteilungen. Die Werte des Egalitätsindex streuen stärker in der siebten als in der dritten Welle, das heißt, die Einstellungen zu Geschlechterrollen sind heute weltweit uneinheitlicher als sie es vor 25 Jahren waren.infoVgl. hierzu auch Xiaoling Shu, Bowen Zhu und Kelsey D. Meagher (2025): Classifying and Mapping Gender Ideologies Globally: Gender Attitudes in 47 Countries at the Turn of the 21st Century. Journal of Marriage and Family, 87(2), 724–750; Carly R. Knight und Mary C. Brinton (2017): One Egalitarianism or Several? Two Decades of Gender-Role Attitude Change in Europe. American Journal of Sociology, 122(5), 1485–1532. Dies muss nicht innerhalb aller Länder gelten.infoVgl. für Deutschland Christian Ebner, Michael Kühhirt und Philipp M. Lersch (2020): Cohort Changes in the Level and Dispersion of Gender Ideology after German Reunification: Results from a Natural Experiment. European Sociological Review, 36(5), 814–828.

Um lange Veränderungen über die Zeit verfolgen zu können, reichen die Befragungen des World Value Survey leider nicht weit genug zurück. So kann man für die Zeit vor 1995 nicht auf ganze Wellen zurückgreifen, sondern muss anders vorgehen. Hier wird der Umstand genutzt, dass Individualdaten vorliegen, wobei zu jeder Antwort auch das Geburtsjahr der entsprechenden Person bekannt ist. In Deutschland waren die jüngsten Antwortenden in der Welle 1995 18 Jahre alt, wurden demnach etwa 1977 geboren. Andere Personen waren vielleicht schon 80 Jahre alt und stammen insofern aus dem Geburtsjahrgang 1915. Der aus den individuellen Antworten von rund 1000 Personen pro Erhebungswelle für jedes Geburtsjahr gebildete Mittelwert in den Wellen 1995 und 2017 zeigt, dass jüngere Jahrgänge ein moderneres Frauenbild als ältere Jahrgänge haben (Abbildung 3). Zudem modernisiert sich die Einstellung zwischen den Wellen auch innerhalb der meisten Jahrgänge.

„Rückrechnung“ von Einstellungen zu Geschlechterrollen zeigt positiven Trend

Basierend auf den verfügbaren Antworten der jeweils ältesten Welle, die die Jahrgänge 1915 bis 1977 nutzt, lassen sich auf Basis bestimmter Annahmen Rückrechnungen vornehmen. Konkret wird angenommen, dass die Jahrgänge ab 1915 immer so antworten würden, wie sie es in der Befragung 1995 getan haben. Für die Jahrgänge vor 1915 wird angenommen, dass sie wie die Jahrgänge 1915 bis 1924 in der Befragung 1995 antworten würden.infoDie Wirklichkeit ist komplizierter. Zum einen lässt die hier gewählte Vorgehensweise keine nicht-linearen Einflüsse zu, wie mögliche Schocks durch den Ersten Weltkrieg. Zum anderen können sich Alterseffekte über die Kohorten hinweg unterscheiden, vgl. dazu Francisco Perales, Philipp M. Lersch und Janeen Baxter (2019): Birth Cohort, Ageing and Gender Ideology: Lessons from British Panel Data. Social Science Research, 79 (March), 85–100. Bei der Rückrechnung werden hier nur ein konservativ angesetzter Kohorteneffekt und weder einen Alterseffekt noch zeitabhängige Einflüsse (Periodeneffekte) berücksichtigt. Das scheinen aufgrund des klaren Zeittrends vertretbare, sogar eher konservative Annahmen zu sein.infoTatsächlich gibt es Anhaltspunkte für zwei weitere Einflüsse, so dass die früheren Antworten tendenziell noch traditioneller ausgefallen sein könnten als hier angenommen: Zum einen kann man für Deutschland beobachten, dass über alle verfügbaren Wellen die Einstellungen zu Geschlechterrollen immer moderner geworden sind, zum anderen zeigt sich, dass dieselben Jahrgänge mit der Zeit moderner antworten (vgl. Menkhoff und Wrohlich (2024), a.a.O.)

Dieses Verfahren kann man bei 60 berücksichtigten Jahrgängen, und einem Erfordernis „echter“ Antworten für zum Beispiel 20 Jahrgänge um 40 Jahre gegenüber dem zuletzt erfassten Jahrzehnt ausdehnen. Damit basiert die geschätzte Welle von 1955 auf den tatsächlichen Antworten der 60- bis 80-Jährigen aus dem Jahr 1995 sowie auf der Annahme, dass die 40 Jahrgänge davor, also die Jahrgänge 1875 bis 1914, so geantwortet hätten wie die Jahrgänge 1915–1924 im Jahr 1995.

Auf Basis dieser Vorgehensweise können Werte für fiktive Befragungen vor 1995 berechnet werden (Abbildung 4). Sowohl die Durchschnittswerte über alle Länder als auch die Werte für Deutschland steigen über die Zeit.

Konvergenz der Einstellungen zu Geschlechterrollen über Länder hinweg aktuell fraglich

Bei längerfristiger Betrachtung der gesamten Welt gibt es demnach einen klaren Modernisierungsprozess der Einstellungen zu Geschlechterrollen in der Gesellschaft. Dieser ist bisher abgeleitet aus den Antworten zu den jeweiligen Zeitpunkten einer Erhebungswelle sowie einer Abschätzung früherer Wellen, die auf den Antworten der älteren Jahrgänge beruht. Allerdings kann man diese Entwicklung nicht einfach in die Zukunft fortschreiben.

Hinweise auf weniger einheitliche Modernisierung

Die bisherigen Analysen haben drei Hinweise darauf gegeben, dass die weltweite Modernisierung möglicherweise nicht so weitergehen wird wie in den letzten Jahrzehnten.infoFür Evidenz hierzu aus den USA, siehe zum Beispiel David Cotter, Joan M. Hermsen und Reeve Vannemann (2011): The End of the Gender Revolution? Gender Role Attitudes from 1977 to 2008. American Journal of Sociology, 117(1), 259–289; Jaoling Shu und Kelsey D. Meagher (2018): Beyond the Stalled Gender Revolution: Historical and Cohort Dynamics in Gender Attitudes from 1977 to 2016. Social Forces, 96(3), 1243–1274. Für Evidenz zu europäischen Ländern siehe zum Beispiel Katia Begall, Daniela Grunow und Sandra Buchler (2023): Multidimensional Gender Ideologies across Europe: Evidence from 36 Countries. Gender & Society, 37(2), 177–207. Erstens sind die Länder mit den egalitärsten Einstellungen, wie zum Beispiel Schweden, schon ziemlich nah am theoretischen Maximum egalitärer Einstellungen (Abbildung 1). Zweitens ist selbst in Deutschland, das diesbezüglich noch deutlich hinter Schweden zurückbleibt, der Kohorteneffekt zuletzt nicht mehr so eindeutig wie in der Vergangenheit. Der Wert des Egalitätsindex der jüngeren Welle ist etwa seit dem Jahrgang 1965 bis zu den jüngsten Jahrgängen um 1995 fast unverändert geblieben (Abbildung 3). Drittens deutet die stärkere Streuung der Indexwerte der einzelnen Länder in der jüngsten Welle darauf hin, dass der weltweite Trend nicht mehr so einheitlich ist, wie er vielleicht einmal war.

Um also Genaueres über die Entwicklung am aktuellen Rand aussagen zu können, werden die Einstellungen der Jüngeren im Vergleich zu anderen Antwortenden untersucht. Zu diesem Zweck werden für die jüngste verfügbare Erhebungswelle, das ist in der Regel Welle 7 oder Welle 6, die Antworten nach Jahrgängen ausgewertet.

Die jüngsten zehn Jahrgänge sind nicht mehr moderner eingestellt als die Zehn-Jahres-Kohorte davor

Ausgangspunkt ist der Befund für Deutschland, wonach bei den jüngsten Jahrgängen keine größeren Veränderungen in den Einstellungen zu Geschlechterrollen zu beobachten sind. Untersucht wird, ob dies auch in anderen Ländern der Fall ist und die jüngsten Jahrgänge noch klar modernere Einstellungen als die etwas älteren aufweisen, demnach grob die Befragten der Altersgruppe 18 bis 27 moderner eingestellt sind als die der Altersgruppe 28 bis 37.infoDas ignoriert erneut Alterseffekte, so dass die Schätzung vermutlich konservativ ist. Der Vergleich zeigt, dass die Jüngeren nur in einigen Ländern klar moderner eingestellt sind (Abbildung 5). Weltweit gibt es am aktuellen Rand bei den 18- bis 27-Jährigen keine deutliche Modernisierung mehr im Vergleich zu den 28- bis 37-Jährigen – in vielen Ländern entsprechen die Einstellungen zu Geschlechterrollen der 18- bis 27-Jährigen denen der 28- bis 37-Jährigen. Die deutsche Entwicklung fällt also nicht aus dem Rahmen.infoVgl. u.a. Cotter et al. (2011), a.a.O. sowie Begall et al. (2023), a.a.O.

In einer weiteren Analyse werden nicht die Niveaus, sondern die Veränderungen bei Jungen und der Gesamtbevölkerung betrachtet. Dazu wird mittels linearer Regressionen für jedes Land getrennt ermittelt, wie sich die Einstellungen systematisch nach dem Lebensalter unterscheiden. Der Koeffizient, der die Steigung der Regressionsgeraden und damit die Stärke des Alterseffektes misst, zeigt den Grad möglicher Modernisierung im jeweiligen Land an: Positive Werte indizieren, dass die Einstellungen umso moderner sind, je jünger die Befragten sind; negative Werte bedeuten, dass die Einstellungen umso traditioneller sind, je jünger die Befragten sind. Um den Einfluss des Alters bei den Jüngeren mit dem in der Gesamtbevölkerung zu vergleichen, werden die Daten der jüngsten Welle für die Gesamtbevölkerung und für die jüngsten 20 Jahrgänge getrennt untersucht. Es interessiert also nicht einfach, ob die Jüngeren moderner als die Älteren antworten, sondern ob der Trend der Modernisierung unter den Jüngeren noch so stark wie in der Gesamtbevölkerung ist.

Insgesamt sind in dieser Analyse 83 (plus die Welt) Länder erfasst (Abbildung 6). Länder rechts von der Senkrechten weisen für die Gesamtbevölkerung einen positiven längerfristigen Modernisierungstrend auf. Länder links davon tendieren zu zunehmend traditionellen Einstellungen über Geschlechterrollen (und das in fast allen Fällen mit schwacher Tendenz). Anders ist die Situation, wenn man nur die jüngsten 20 Jahrgänge in der Befragung berücksichtigt. Länder oberhalb der Waagerechten weisen einen positiven Trend bei den jüngsten 20 Jahrgängen auf, Länder unterhalb zeigen eine negative Tendenz. Hier fällt ins Auge, dass etwa 40 Prozent der Länder bei den jüngsten 20 Jahrgängen eine negative Tendenz aufweisen. Das heißt, in diesen Ländern sind die jüngsten 20 Jahrgänge der Erwachsenen umso traditioneller, je jünger sie sind. Wenn sich dies fortschreibt, würde sich die Modernisierungstendenz eines Tages ins Gegenteil umkehren. Länderbeispiele kommen aus der ganzen Welt, wie Bulgarien (–0,125), Schweiz (–0,135) oder Italien (–0,136) aus Europa, sowie Südafrika (–0,077), USA (–0,206), Brasilien (–0,110) oder Uruguay (–0,192).

Diese Verlangsamung der Modernisierung der Einstellungen zu Geschlechterrollen zeigt eine weitere Analyse. Die Diagonale von links unten nach rechts oben in Abbildung 6 stellt alle Situationen dar, in denen die Jungen den gleichen Modernisierungstrend mit Blick auf ihre Einstellungen aufweisen wie die Gesamtbevölkerung. Die allermeisten Länder liegen unterhalb dieser Diagonalen. Die Jungen modernisieren sich langsamer als die gesamte Bevölkerung.infoDieses Ergebnis fand sich auch in früheren Studien für die USA, siehe u.a. Joanna R. Pepin und David A. Cotter (2018): Separating Spheres? Diverging Trends in Youth’s Gender Attitudes about Work and Family. Journal of Marriage and Family, 80(1), 7–24.

Fortschreibungen können sich ändern, aber ein Bruch der starken Modernisierung ist wahrscheinlich

In den älteren Erhebungswellen des World Value Survey waren die jüngeren Jahrgänge typischerweise moderner hinsichtlich ihrer Einstellungen zu Geschlechterrollen als die älteren. Auf der Basis dieses Befunds lassen sich gut geschätzte Erweiterungen der Datenbasis in die Vergangenheit vornehmen. Dabei sind die Rückrechnungen natürlich von den Annahmen abhängig, und diese sind vorsichtig gewählt, denn die Älteren waren nicht nur zu einem gegebenen Zeitpunkt traditioneller als die Jüngeren, sondern sie wurden über die Zeit moderner. Insofern ist die Annahme, die nicht erfassten Jahrgänge hätten so traditionell geantwortet wie die ältesten erfassten, eher konservativ.

In die andere Richtung, für die Prognose, sind Aussagen aus den erwähnten Gründen viel schwieriger. Vor allem sind die Jüngsten nicht unbedingt moderner eingestellt als die Jahrgänge vor ihnen. Wenn aber kein klarer Trend mehr erkennbar ist, wird die Fortschreibung in die Zukunft sehr unsicher. Allein die Tatsache, dass dies so ist, deutet schon einen Bruch des vergangenen Trends an.

Fazit: Die Modernisierung der Einstellungen zu Geschlechterrollen kommt ins Stocken

Vielleicht erschien es manchmal so, als sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich das Thema Gleichstellung der Geschlechter von selbst erledigt. Die Jungen waren in ihren Einstellungen „immer“ moderner eingestellt als die Alten und oft wurden die Alten selbst mit der Zeit auch noch moderner. Für Deutschland sind diese Effekte gut belegt.infoVgl. hierzu auch Alice Barth und Miriam Trübner (2018): Structural Stability, Quantitative Change: A Latent Class Analysis Approach towards Gender Role Attitudes in Germany. Social Science Research, 72, 183–193; Ebner et al. (2020), a.a.O. Würde dieser Prozess im „alten“ Tempo weitergehen, dann würde der Wert des Egalitätsindex für Deutschland (der heute bei etwa 0,78 liegt) in zehn Jahren ungefähr den heutigen Wert der modernsten Länder (das sind die nordischen Länder) erreichen, also etwa 0,9 von maximal möglichen 1,0.

Tatsächlich zeichnet sich aber eine Verlangsamung des Prozesses ab. Vielleicht schließt Deutschland zum nordischen Niveau auf, aber das könnte länger dauern, und konkret absehbar ist es nicht. Immerhin hält in Deutschland die Modernisierung an, weil es noch traditionell eingestellte alte Jahrgänge gibt.

In vielen Ländern der Welt dagegen ist der Trend bei den Jüngeren sogar negativ. Das bedeutet, die Jüngsten in diesen Ländern sind nicht mehr „automatisch“ moderner als die etwas weniger Jungen, und dies auf einem Niveau weit entfernt von nordischen Einstellungen. Auch die Trends zeigen nicht mehr uneingeschränkt in Richtung Modernisierung. Dies mag dazu führen, dass die beobachtbare Uneinheitlichkeit in den Einstellungen zu Geschlechterrollen über die Länder hinweg weiter zunimmt und der Prozess der Modernisierung bei den Einstellungen zu Geschlechterrollen im Durchschnitt der Welt ins Stocken gerät.

Lukas Menkhoff

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

Katharina Wrohlich

Leiterin in der Forschungsgruppe Gender Economics

Themen: Ungleichheit, Gender



JEL-Classification: J16;N30;Z13
Keywords: Social norms, gender equality, historical development
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2025-45-1

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