Direkt zum Inhalt

Allgemeiner Mindestlohn: DIW Berlin warnt vor überzogenen Erwartungen

Pressemitteilung vom 25. September 2013

Gesetzlicher Mindestlohn kann Lohnspreizung verringern und Gerechtigkeitsempfinden erhöhen – Einkommensungleichheit, Armut und Zahl der Aufstocker werden nicht signifikant gesenkt – DIW empfiehlt moderates Einstiegsniveau, um Arbeitsplatzverluste und weitere Ausbreitung prekärer Beschäftigung zu vermeiden – Kaum Konjunkturimpulse zu erwarten

Ein flächendeckender Mindestlohn kann die Lohnspreizung in Deutschland verringern und dürfte dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung entgegenkommen. Wird er vorsichtig angesetzt, können größere Arbeitsplatzverluste wahrscheinlich vermieden werden. Das sind die zentralen Ergebnisse einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Viele der mit Mindestlöhnen verbundenen Erwartungen werden aber nicht erfüllt. Denn sie führen nicht zu einer signifikanten Verringerung der Einkommensungleichheit und der Armut, und eine deutliche Reduzierung der „Aufstocker“ ist auch nicht zu erwarten, lautet das Urteil der DIW-Arbeitsmarktexperten Karl Brenke und Kai-Uwe Müller. Ebenso wenig sollte man auf einen kräftigen, gesamtwirtschaftlichen Kaufkraftschub hoffen.

Der Mindestlohn in der aktuellen Diskussion

Bei den Befürwortern sind die Erwartungen an den Mindestlohn groß: Er soll „Lohndumping“ beenden, für „gerechte“ Löhne sorgen, Armut verhindern, der „Aufstockerei“ ein Ende setzen, den Bürgern mehr Einkommensgerechtigkeit sowie dem Staat höhere Steuereinnahmen bescheren und schließlich auch der deutschen Konjunktur über eine Anhebung der Kaufkraft Wachstumsimpulse verleihen. Ähnlich groß sind die Ängste und Sorgen auf der Seite der Gegner: Ein Mindestlohn könnte Arbeitsplätze vernichten oder gar Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit beschädigen. Arbeitsmarkt-Experten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) haben die wirtschaftlichen Folgen der derzeit von den politischen Parteien diskutierten Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro oder 10 Euro vor dem Hintergrund des internationalen Forschungsstandes zu Mindestlöhnen und auf Basis aktueller empirischer Ergebnisse für Deutschland analysiert. Zudem untersuchten sie auf Grundlage von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), wie viele und welche Arbeitnehmer im Land vom derzeit diskutierten Mindestlohn unmittelbar betroffen wären. Die Ergebnisse geben weder Befürwortern noch Gegnern eindeutig Recht.

Vor allem bei Arbeitnehmern ohne Berufsausbildung und in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Jungen, Älteren, Frauen, Berufswechslern sowie in kleinen Betrieben und konsumnahen Dienstleistungsbranchen müssten Löhne angehoben werden

Bei Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro müssten 5,6 Millionen oder 17 Prozent aller derzeit abhängig Beschäftigten eine Lohnerhöhung erhalten. In den alten Bundesländern wären es 15 Prozent der Arbeitnehmer, im Osten mehr als ein Viertel. Viele Arbeitnehmer ohne Berufsausbildung und in prekären Beschäftigungsverhältnissen wären berührt. Da der Anteil von Frauen, Jüngeren und Älteren an den Geringverdienern und Mini-Jobbern deutlich größer ist, wären sie auch überdurchschnittlich häufig von den Lohnerhöhungen betroffen. Vergleichsweise häufig müssten die Löhne auch bei Ungelernten sowie bei Personen angehoben werden, die ihren erlernten Beruf aufgegeben haben und eine einfache Tätigkeit verrichten. Von den einzelnen Sektoren bekämen vor allem die Landwirtschaft und die konsumnahen Dienstleistungsbereiche Mindestlöhne zu spüren – Sektoren, die kaum dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Vor allem Kleinbetriebe müssten ihre Stundenlöhne anpassen; hier würden Mindestlöhne die Arbeitskosten der Betriebe erheblich erhöhen. Mindestlöhne würden also hinsichtlich der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber sehr selektiv wirken.

Käme es zu einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro, müssten die Bruttostundenlöhne derjenigen Arbeitnehmer, die derzeit unter dieser Grenze verdienen, um durchschnittlich mehr als  35 Prozent steigen. Die gesamtwirtschaftliche Lohnsumme würde sich dadurch um rund drei Prozent erhöhen - im Westen um zwei und im Osten um fünf Prozent, bei Kleinstbetrieben allerdings um zehn Prozent.

Reduzierung der Lohnungleichheit im unteren Bereich, aber keine Änderungen bei der Einkommensungleichheit, dem Armutsrisiko und der Zahl der Aufstocker

Eindeutig ist der Forschungsstand in Bezug auf die Senkung der Lohnungleichheit: „Alle Studien zeigen, dass die Lohnspreizung durch einen Mindestlohn geringer wird“, so Müller. Wie stark die Lohnspreizung nachlässt, hängt von der Höhe des Mindestlohns ab: Bei Löhnen von mehr als 8,50 Euro sinkt die Ungleichheit (gemessen am Gini-Koeffizenten) um sechs Prozent. Bei einem Mindestlohn von zehn Euro beliefe sich die Änderung auf 13,5 Prozent.

Kaum sinken würden hingegen die Einkommensungleichheit unter den Haushalten und das Armutsrisiko im Land. Zum einen macht sich das Zusammenspiel des Steuer- und Transfersystems bemerkbar: Bei Einführung eines Mindestlohns fällt zusätzliches, zu versteuerndes Lohneinkommen an, die Steuervorteile reduzieren sich und es kann zu einer Minderung von Sozialtransfers kommen. „Das würde die Kaufkraftwirkung des Mindestlohns mindern“, so Kai-Uwe Müller. „Überdies fallen in den Haushalten von Geringverdienern häufig weitere und oft keineswegs niedrige Erwerbseinkommen an. Ein typisches Beispiel: Mit einem gering entlohnten Minijob wird in einem Mehrpersonenhaushalt die Haushaltskasse aufgebessert.“ Auch die Anzahl der sogenannten Aufstocker, also jener Personen, die neben einem Erwerbseinkommen Arbeitslosengeld II beziehen, würde sich nach Einschätzung der Experten nicht wesentlich ändern. „Die allermeisten Aufstocker arbeiten verkürzt, und ihr Lohneinkommen wird mit den Sozialleistungen verrechnet. Ein höherer Lohn wird an ihrer Lage nichts ändern. Diese Aufstocker haben kein Einkommens-, sondern ein Unterbeschäftigungsproblem.“

Eine Auswertung der SOEP-Daten zeigte, dass die rund 280.000 Aufstocker mit einer Vollzeitstelle meist Sozialleistungen beziehen, weil größere Haushalte zu versorgen sind, nicht weil sie sehr niedrige Stundenlöhne erhalten. Im Durchschnitt verdienen die Aufstocker 8,66 Euro pro Stunde, nur bei der Hälfte sind es 7,85 Euro oder weniger.

Beschäftigungswirkungen von Mindestlohnniveau abhängig und heterogen

Die Beschäftigungswirkungen eines allgemeinen Mindestlohns hängen von mehreren Faktoren ab – zentral von dessen Höhe. Möglicherweise stellen sich in einigen Bereichen positive Effekte ein, es kann allerdings auch zu Arbeitsplatzverlusten kommen. Die neueren empirischen Studien zeigen kein einheitliches Bild. Es gibt daher keine Referenz, um die Wirkungen eines allgemeinen Mindestlohns von 8,50 Euro oder gar von 10,00 Euro, wie von der Linkspartei gefordert, vorab zuverlässig wissenschaftlich einschätzen und quantifizieren zu können.  Unklar sind auch mögliche Veränderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigung – etwa der Ersatz einfacher durch qualifizierte Arbeit – sowie Auswirkungen auf die Güterpreise, die die Kaufkraft schmälern und das Konsumverhalten beeinflussen könnten.

Einführung auf niedrigerem Niveau und sukzessive Anhebung kann Gefahren minimieren

Wegen dieser Unsicherheiten und wegen der stark selektiven Wirkung der Mindestlöhne auf einzelne Gruppen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sind Brenke und Müller gegenüber einer abrupten und flächendeckenden Einführung des Mindestlohns auf einem Niveau von 8,50 Euro oder mehr skeptisch. „Die Risiken wären für einige Branchen und Regionen groß. Wir  empfehlen den Mindestlohn zunächst auf einem niedrigeren Niveau anzusetzen und dann schrittweise zu erhöhen“, so die Experten. „Die Einführung von Mindestlöhnen ist ein Feldexperiment, das mit Vorsicht angegangen werden sollte. Es wäre gefährlich, gleich mit einer hohen Dosis zu beginnen“, so Karl Brenke.

Außerdem regen die Experten bei der Höhe eines Mindestlohns Unterschiede etwa nach dem Alter oder der Region an. Es müsste auch verhindert werden, dass die Mindestlöhne unterlaufen werden – etwa durch unbezahlte Mehrarbeit sowie durch eine vermehrte Beschäftigung auf Basis von Werkverträgen oder in Form von Minijobs. Minijobs wären ganz abzuschaffen, weil sie bei Mindestlohnregulierungen den Markt noch mehr verzerren würden, da Arbeitgeber bei Minijobs niedrigere Lohnnebenkosten tragen müssen und Arbeitnehmer von Steuern und Sozialabgaben befreit sind.

„Wenn man einen Mindestlohn will, dann sollte man ihn mit Vorsicht gestalten“, so das Fazit der Forscher. „Er kann Lohnspreizungen mindern, ist aber kein sozial- und verteilungspolitisches Allheilmittel.“

Links

DIW Wochenbericht 39/2013 (PDF, 1 MB)

DIW Wochenbericht 39/2013 als E-Book (EPUB, 1.82 MB)

O-Ton von Karl Brenke
Gesetzlicher Mindestlohn: Kleine Betriebe hätten zu kämpfen - Acht Fragen an Karl Brenke
keyboard_arrow_up