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Die Vermessung des Wohlstands

Bericht vom 22. Februar 2013

Wachstum ist längst nicht alles – das hat selbst die Politik eingesehen. Sie muss sich ändern. Aber wie?

Gastbeitrag von Gert G. Wagner in "Der Freitag" vom 21.02.2013

Viele Menschen, Politiker und Wissenschaftler in Deutschland glauben, dass das „Bruttoinlandsprodukt“, kurz BIP, als Maßzahl, an der sich Politik orientieren sollte, überholt ist. Jahrzehntelang war die Summe aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in Deutschland produziert werden, von überragender Bedeutung. Nach dieser Größe hat sich nicht nur die Politik gerichtet – sondern auch Journalisten und Wissenschaftler in ihrer Bewertung der Wirtschaftspolitik. Stieg der Wert, war alles gut. Sank er, war Krise angesagt. Doch diese Methode wurde der gesamten wirtschaftlichen und sozialen Wirklichkeit nie gerecht. Deshalb hat der Bundestag Ende 2010 eine Enquete-Kommission mit dem Auftrag eingerichtet, neue Wege zu finden, wie man Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität zeitgemäßer messen kann. Von einer neuartigen statistischen Maßzahl erhofften sich viele ein ganz neues Konzept für die deutsche Politik, das das Wachstum hinter sich lassen und ab sofort sozial und ökologisch nachhaltig sein solle. Ein sehr hoher Anspruch, der eigentlich nur enttäuscht werden konnte. Und so werden auch die ersten Ergebnisse der Kommission, die vor wenigen Tagen vorgestellt wurden, kommentiert: nichts Neues. Ein Wohlstandsbegriff jenseits des Wirtschaftswachstums sei nicht gefunden worden. Stimmt! Die Enquete hat „nur“ einen Katalog von neun statistischen Kennziffern vorgeschlagen, der das BIP nicht ersetzt, sondern ergänzen soll. Das BIP soll also weder abgeschafft werden, noch wird eine einzige alternative Maßzahl vorgeschlagen. In diesem Punkt waren sich alle Fraktionen im Bundestag einig: Ein Anti-BIP hätte die unterschiedlichsten Wünsche und Vorstellungen der Bürger niemals „auf einen Nenner“ bringen könnten. Das Anti-BIP wäre ebenso wenig von allen akzeptiert, wie das heute bereits beim BIP der Fall ist. Hat die Enquete also tatsächlich – wie viele Kommentatoren schreiben – ihr Ziel verfehlt? Mitnichten. Denn die Kommission hat gründlicher nachgedacht als ihre vorschnellen Kritiker. Sie hat Vorschläge gemacht, wie statistische Indikatoren künftig besser im politischen Diskurs verankert werden können. Dabei geht es um viel mehr als nur neue Statistiken. Es geht um den Umgang der Politik und insbesondere der Regierung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Diese Vorschläge werden die Welt sicherlich nicht schlagartig ändern – das würde ein Anti-BIP aber auch nicht tun. Aber Statistiken können wichtige Hilfsmittel für eine rationale Politik sein. Sie können aber gute Politik nicht automatisieren. Die zehn „Leitindikatoren“, die von einer breiten Mehrheit in der Kommission verabschiedet wurden, können drei übergeordneten Zielen zugeordnet werden. Die erste Dimension bildet wirtschaftlichen Wohlstand anhand von Wachstum, der Einkommensverteilung und der Staatsverschuldung ab. Die zweite Gruppe zielt auf Größen ab, die die soziale Teilhabe betreffen. Darunter fallen zum Beispiel Beschäftigung, Bildung und Lebenserwartung, aber auch ein Indikator für „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“. Die dritte Dimension ist, ganz im Sinne der politischen Debatte der vergangenen Jahre, ganz auf ökologische Belange ausgerichtet: Treibhausgase, Stickstoffemissionen und Artenvielfalt. Der ebenfalls vorgeschlagene „ökologische Fußabdruck“ wäre zu den drei Indikatoren sicherlich eine Alternative gewesen; aber die Mehrheit der Kommission hält die drei Einzelindikatoren für anschaulicher. Wenn man ehrlich ist: Streit über solche Details lohnt nicht. Dass ein allzu starkes Verdichten der Vielfalt des Lebens kaum möglich ist, zeigt das Minderheitsvotum der Linksfraktion eindrucksvoll: Einerseits schlägt sie nur drei Indikatoren vor (Verteilung der Löhne und des Vermögens, ökologischer Fußabdruck), andererseits sollen weitere 28 Indikatoren die Dinge differenzieren. Daneben nehmen sich die zehn Leitindikatoren und zehn Warnlampen der Mehrheit der Enquete geradezu bescheiden aus.

Glück und Ökologie

Im Meinungsbild der Bevölkerung spielt das Wirtschaftswachstum schon lange keine überragende Rolle mehr. Aus dem Katalog der Enquete stehen an der Spitze – nach einer Umfrage von TNS Infratest – der „Erhalt der Demokratie“ und „genug Arbeit für alle“. Die überragende Bedeutung des Beschäftigungsziels zeigt auch die vielzitierte „Glücksforschung“. Um die Bereiche „Soziales und Teilhabe“ muss man sich also keine Sorgen machen, sie sind auch politisch höchst relevant. Auch die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen ist den Menschen sehr wichtig. Aber: Obwohl ökologische Nachhaltigkeit langfristig für das Überleben der Menschheit von überragender Wichtigkeit ist, sind andere Ziele den meisten Menschen kurz oder mittelfristig wichtiger. Und diese stiefmütterliche Behandlung des Ökologie-Ziels gilt erst recht für die Politik. Die Enquete hat eine eigene, repräsentative Untersuchung bei Bundestags- und Landtagsabgeordneten und Kommunalpolitikern machen lassen, die diese Einstellung auch für die politische Klasse spiegelt: Beschäftigungspolitik und finanzielle Nachhaltigkeit des Staates stehen bei Politikern ganz oben auf ihrer Liste der Wichtigkeit; ökologische Ziele, gemessen an der abgefragten Bedeutung des „ökologischen Fußabdrucks“ aber weit unten. Für die eigene politische Arbeit wird auch das BIP nicht häufig genutzt – ganz im Gegensatz zur Arbeitslosenquote und der öffentlichen Verschuldung. Dies zeigt: Die eigentliche Frage ist nicht, wie ein Indikatoren-Tableau im Detail aussehen sollte. Es geht vielmehr darum, wie man ökologische Ziele auf dieselbe Ebene der politischen Relevanz heben kann wie „Verschuldung“ oder „Soziales und Teilhabe“? Oder konkret: Wie kann man die Übernutzung der Ressource Umwelt national und international eindämmen? Da dies aber – ob man es nun will
oder nicht – mit einem ordentlichen BIP und wirtschaftlichem Wachstum zusammenhängt, muss es endlich eine politische Diskussion geben, die die Bereiche „Wachstum“, „Soziales und Teilhabe“ und „Ökologie“ zusammenbringt und nicht – wie seit Jahrzehnten üblich – sorgfältig voneinander trennt. Der wohl wichtigste Vorschlag, den die Enquete macht, ist die –  bislang in der Öffentlichkeit übersehene – Empfehlung, dass die Bundesregierung künftig zu dem gesamten Indikatoren-Tableau einmal im Jahr umfassend Stellung nehmen soll. Dass also nicht zunächst das Wachstum im „Jahreswirtschaftsbericht“ abgehandelt wird, ein Jahr später dann das Thema „Soziales und Teilhabe, bevor dann, vielleicht kurz vor Ende der Legislaturperiode, endlich zur Ökologie Stellung genommen wird. Und niemand wirklich darauf achtet, ob die verschiedenen Stellungnahmen sich nicht widersprechen.

Mehr Profil, bitte!

Die Enquete empfiehlt außerdem, dass die unübersichtliche Landschaft von Sachverständigenräten, Beiräten und Regierungsberichten auf den Prüfstand gestellt wird. Wünschenswert wäre stattdessen, dass alle Indikatoren von sachverständigen Gremien diskutiert werden, bevor die Regierung dann Stellung nimmt. Dabei sollte nach meiner Überzeugung nicht ein einziger „Super-Sachverständigenrat“ geschaffen werden, der die drei zentralen Politikbereiche
„Wachstum“, „Soziales und Teilhabe“ und „Ökologie“ gemeinsam in den Blick nimmt. Wesentlich sinnvoller wäre es, diese drei Bereiche durch jeweils eigene Sachverständigenräte auch ein Profil zu geben und ihnen gezielt öffentliche Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Diese Räte werden sich gewiss auch streiten. Genau dies ist auch notwendig: Zielkonflikte sollten nicht verschleiert, sondern offen auf der politischen Bühne ausgetragen werden. Neben den bestehenden Sachverständigenräten für Wirtschaft und Umwelt sollte deshalb nach meiner Überzeugung ein neuer Rat geschaffen werden: ein Sachverständigenrat für nachhaltige Lebensqualität, der den Bereich „Soziales und Teilhabe“ abdeckt. Er könnte dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales oder dem Kanzleramt zugeordnet werden. Die Mehrheit der Enquete-Kommission ist überzeugt, dass ihre differenzierten Empfehlungen der wissenschaftlichen Rationalität in der Politik mehr Gewicht geben können. Denn dieses Ziel steht ja hinter dem Wunsch, das BIP als alleinigen Wohlstandsindikator zu ersetzen. Mehr Rationalität ist sicherlich sinnvoll – sie kann aber keine Wunderdinge bewirken. Denn am Ende können Statistiken und Indikatoren den politischen Interessenausgleich, demokratische Politik und Wahlen nicht ersetzen.

Gert G. Wagner ist Vorstandsmitglied des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand. Lebensqualität“. 2002 bis 2008 war er Mitglied im Wissenschaftsrat

Die Vermessung des Wohlstands (PDF, 324.33 KB)

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