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Unsoziale Marktwirtschaft

Medienbeitrag vom 11. Juni 2019

Derzeit kochen die Emotionen in der öffentlichen Debatte hoch, wenn es um Themen wie hohe Wohnkosten, Lohn- und Vermögensungleichheiten und ähnliche soziale Aspekte geht. Revolutionäre Ideen kommen auf, die das ganze System in Frage stellen. Doch um es vorweg zu nehmen: Wir haben bereits das richtige Modell. Die soziale Marktwirtschaft ist eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Ihr verdanken wir das Wirtschaftswunder Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg und auch noch viele weitere wirtschaftlich starke Jahre. Doch in den vergangenen Jahren wurde die soziale Komponente unseres Systems stark vernachlässigt. Ihre Ausgestaltung muss daher an einigen Stellen dringend justiert werden.

Warum es so notwendig ist, soll anhand einiger Fakten deutlich werden: Einem seit neun Jahren anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung und kontinuierlichen Beschäftigungsrekorden stehen in Deutschland einer der größten Niedriglohnsektoren in Europa und eine steigende Armutsrisikoquote gegenüber. Rund 40 Prozent der Deutschen besitzen keine Ersparnisse und keine Altersvorsorge und in keinem anderen Land Europas ist es so schwer, über Bildung den sozialen Aufstieg zu schaffen, wie die OECD regelmäßig konstatiert.

Angesichts dieser widersprüchlichen Entwicklungen ist es wenig erstaunlich, dass aktuell so heftig über das Funktionieren der sozialen Marktwirtschaft debattiert wird. Und da aktuelle Konjunkturprognosen auf ein Nachlassen des Wirtschaftsbooms hindeuten, wird diese Debatte auch nicht so schnell verebben. Wenn es während des Booms nicht gelungen ist, das Leben für untere Einkommensschichten zu verbessern, wie soll es dann in der nächsten Rezession gelingen? Die Folge wird eine zunehmende Polarisierung in unserem Land sein und es ist dringend geboten, diesen Unmut ernst zu nehmen.

Ein Blick auf den Niedriglohnsektor soll exemplarisch das Problem verdeutlichen. Richtig ist, dass die Arbeitslosenrate so niedrig ist wie kaum jemals zuvor. Doch trotz Wirtschaftsboom bekamen im Jahr 2017 rund acht Millionen abhängig Beschäftigte einen Niedriglohn, wohlgemerkt: für ihre Haupttätigkeit. Das sind beinahe drei Millionen mehr als im Jahr 1995. Jeder vierte Arbeitnehmer, vorwiegend Frauen, Alleinerziehende und Migrantinnen und Migranten arbeiten hauptberuflich für weniger als 10,80 Euro die Stunde, also 60 Prozent des Medianstundenlohns; das übertrifft deutlich den europäischen Schnitt, wo nur ein Sechstel im Niedriglohnsektor beschäftigt ist. Niederschmetternd ist vor allem der Befund, dass in Deutschland zwei Drittel der Beschäftigten im Niedriglohnsektor den Aufstieg in höhere Lohnsegmente nicht schaffen. Erwerbstätigkeit allein bietet also keinen umfassenden Schutz vor Einkommensarmut mehr.

Langfristig hauptberuflich im Niedriglohnsektor zu arbeiten bedeutet aber, dass diese Menschen früher oder später auf Sozialleistungen angewiesen sein werden, weil sie die steigenden Mieten nicht bezahlen können und wegen der geringen Rentenansprüche Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen. Das Armutsrisiko in unserer Gesellschaft steigt entsprechend, während gleichzeitig die Wirtschaft boomt. Lag die Armutsrisikoquote Mitte der neunziger Jahre noch bei elf Prozent, war sie 20 Jahre später im Schnitt auf rund 17 Prozent gestiegen. Im Klartext heißt das: Der vielbeschworene Aufschwung der letzten Jahre ist bei vielen nicht angekommen.

Doch was heißt dieser Befund für die Politik? Wie können wir verhindern, dass die soziale Marktwirtschaft weiter ausgehöhlt wird? Wie kann die Ungleichheit reduziert werden, damit weniger Menschen auf Leistungen des Sozialstaats angewiesen sind? Unterschiedliche soziale Leistungen müssen wieder besser aufeinander abgestimmt werden. So kann es nicht sein, dass Geringverdienenden nicht viel bleibt, wenn sie besser bezahlte Jobs finden, weil ihnen Sozialleistungen gestrichen werden. Wo bleibt da der Anreiz, mehr oder besser bezahlt zu arbeiten, wenn es sich nicht rechnet? Doch es wird auch nichts nützen, allein das Sozialsystem zu reformieren; das hieße, nur an den Symptomen herumzudoktern und nicht an den Ursachen.

Vier Ansätze in den Bereichen Arbeit, Bildung, Steuern und Alterssicherung müssten meines Erachtens verfolgt werden, um unsere Marktwirtschaft sozialer zu machen. Zum einen sollten wir darauf hinarbeiten, dass wieder mehr Arbeitsverträge mit Tarifbindung abgeschlossen werden. Kaum ein Arbeitsvertrag im Niedriglohnsektor hat eine Tarifbindung – diese sinkt von Jahr zu Jahr. Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben daher wenig Verhandlungsmacht gegenüber ihren Arbeitgebern. Die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 hat in Deutschland zwar die Löhne erhöht, am Umfang des Niedriglohnsektors aber nichts geändert.

Dass Arbeit sich wieder mehr lohnt, erfordert nicht nur, dass der Niedriglohnbereich deutlich schrumpft, sondern auch, dass Menschen bessere Aufstiegschancen bekommen. Dazu sollten, und das ist mein zweiter Punkt, mehr Anreize zur Weiterbildung geschaffen werden. Zum einen für Geringqualifizierte, die häufig im Niedriglohnsektor arbeiten. Zum anderen aber auch für die besser Qualifizierten, da es angesichts der Globalisierung und des digitalen Wandels unvermeidlich sein wird, sich kontinuierlich weiterzubilden. Das Prinzip des lebenslangen Lernens sollte von Arbeitgeber- wie von Arbeitnehmerseite verinnerlicht werden. Dafür muss die Politik die Voraussetzungen schaffen, indem sie die entsprechenden Angebote unterstützt. Zusätzlich könnte aber auch für jeden einzelnen ein Lebenschancenkonto Anreize schaffen, die Möglichkeiten wahrzunehmen: für Weiterbildungen oder Existenzgründungen.

Des Weiteren sollte das Steuersystem grundlegend reformiert werden. Einkommen auf Arbeit in Deutschland werden ungewöhnlich stark besteuert, Einkommen auf Vermögen dagegen ungewöhnlich gering. Das sollte dringend geändert werden. Um Arbeit auch wieder lohnenswert zu machen, vor allem für Frauen, die den Großteil der Teilzeitbeschäftigten stellen, sollte das Ehegattensplitting abgeschafft werden. Das wird nicht nur dafür sorgen, dass die Zahl der Erwerbstätigen steigt, sondern schützt diese Frauen auch vor Altersarmut.

Zum vierten schlage ich einen Staatsfonds vor, ähnlich dem Staatsfonds in Norwegen. Dieser Staatsfonds erwirbt strategisch Anteile an privaten Unternehmen – ohne sich in die privatwirtschaftlichen Entscheidungen einzumischen –, um an deren Erfolg teilhaben zu können und die erzielten Renditen zu nutzen, um die soziale Absicherung der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Gerade in einer alternden Gesellschaft wie unserer könnte ein solcher Staatsfonds einen wertvollen Beitrag zur Absicherung im Alter leisten.

Wir müssen uns klarmachen, dass Beschäftigungsrekorde und eine entsprechend niedrige Arbeitslosenquote zwar erstrebenswert sind. Aber es ist nicht zwangsläufig sozial, was irgendeine Arbeit schafft. Sozial ist, was gute Arbeit schafft. Zu diesem Anspruch der guten Arbeit sollten sowohl Löhne gehören, von denen Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten können, als auch die Chance des beruflichen und gesellschaftlichen Aufstiegs. Ansonsten verdient unsere Marktwirtschaft den Titel soziale Marktwirtschaft nicht.

Dieser Text von Marcel Fratzscher ist am 7. Juni 2019 als Gastbeitrag im IPG-Journal erschienen.

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