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Eine Frage der Selbstachtung

Blog Marcel Fratzscher vom 17. Juni 2019

Dieser Beitrag ist am 14. Juni in der ZEIT ONLINE–Kolumne „Fratzschers Verteilungsfragen“ erschienen.

"Die Würde des Menschen ist unantastbar", lautet der erste Satz des Grundgesetzes, dessen 70. Geburtstag jüngst gefeiert wurde. Das Grundgesetz wird zu Recht auch heute noch als wesentliche Grundlage für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft und für den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Erfolg der vergangenen Jahrzehnte gefeiert. Da scheint es wenig ins Bild zu passen, dass unsere Gesellschaft gespalten ist und nationalistische und populistische Kräfte so viel Gehör finden. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen: Wie ist es mit der Würde des Einzelnen in unserer Gesellschaft heute bestellt?

Dieser erste Satz des Grundgesetzes beschreibt treffend, worum es in unserer Gesellschaft gehen soll: um jeden Einzelnen und nicht nur um Gleichheit, Solidarität oder Freiheit. Es geht um all das, was zu einem würdigen Leben dazugehört. Das Grundgesetz formuliert somit einen sehr ambitionierten Anspruch an Staat und Gesellschaft.

Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland unsere Gesellschaft als ungerecht empfindet. Die Mehrheit sagt aber auch, dass es ihnen persönlich wirtschaftlich gut geht und sie zufrieden sind. Wieso wird unsere Gesellschaft dann als dermaßen ungerecht empfunden? Neid ist schuld, sagen die einen, Neid auf die Gewinner der Marktwirtschaft, die besser als andere die Chancen einer solchen Wirtschaftsordnung zu nutzen wissen. 

Leistungsgerechtigkeit ist wichtig

Aber davon profitieren letztlich alle Menschen, da diese Gewinner Innovationen und Beschäftigung schaffen. Ihre Profite ermöglichen es einem starken Sozialstaat, auch diejenigen besser zu stellen, die weniger erfolgreich sind. Kaum jemand in unserer Gesellschaft bezweifelt, dass die soziale Marktwirtschaft dem Gesellschaftsvertrag des Sozialismus und der Planwirtschaft überlegen ist.

Neid muss aber nicht zwingend zu Kapitalismus und Marktwirtschaft gehören. Eine überwältigende Mehrheit könnte die ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen dann als gerecht betrachten, wenn diese Ungleichheit das Ergebnis freier Entscheidungen und eines fairen Wettbewerbs, also von Leistungsgerechtigkeit, ist.

Genauso wichtig wie die Leistungsgerechtigkeit ist für uns Deutsche jedoch die Bedarfsgerechtigkeit, also die Fähigkeit des Einzelnen, die individuellen Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung, Anerkennung, Sicherheit – und was für jeden auch dazugehören mag – zu befriedigen. Der US-amerikanische Philosoph John Rawls nannte dies in seiner Theorie der Gerechtigkeit die Notwendigkeit der Selbstachtung.

In anderen Worten: Selbst eine Gesellschaft, die das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit erfüllt, mag von einer Mehrheit als ungerecht angesehen werden, wenn diese Gesellschaft vielen Menschen Selbstachtung verwehrt. Somit ist Neid nicht gezwungenermaßen irrational, sondern kann durchaus berechtigt sein, wenn die Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen als eine wahrgenommen wird, die die Bedürfnisse vieler Menschen nicht erfüllt.

Womit wir wieder beim Grundgesetz sind: Selbstachtung ist ein essenzielles Element der Würde des Menschen. Und eine Gesellschaft, in der viele Menschen diese Selbstachtung nicht empfinden, wird diesem Anspruch nicht ausreichend gerecht.

Viele betroffene Menschen leben in Ostdeutschland

Trifft dies auf Deutschland zu? Auf der einen Seite steht ein enormer wirtschaftlicher Wohlstand. Deutschland hat eine Rekordbeschäftigung, mehr Menschen denn je machen Abitur und studieren. Und nie hatte Deutschland einen größeren und stärkeren Sozialstaat, der über Steuern und Transfers eine auch im internationalen Vergleich beachtliche materielle Sicherheit bietet.

Auf der anderen Seite stehen viele Menschen, die nicht nur ein Empfinden der Ungerechtigkeit haben, sondern die dies in ihrem tagtäglichen Leben erfahren. Ablesen lässt sich dies an einigen Zahlen: Männer in Ostdeutschland haben eine dreimal so hohe sogenannte Todesrate aus Verzweiflung, also Tod durch Suizid oder als Folge von Alkohol- und Drogenmissbrauch, wie westdeutsche Männer. Gesundheit und Lebenserwartung sind umso besser und höher, je größer das Einkommen ist und diese Unterschiede nehmen zu. Deutschland hat einen ungewöhnlich großen Niedriglohnsektor; fast jede und jeder fünfte Beschäftigte verdient weniger als zwei Drittel des Medianstundenlohns. Auch die politische Polarisierung nimmt zu, eine erhebliche Anzahl der Deutschen unterstützt populistische und fremdenfeindliche Stimmen.

Es ist kein Zufall, dass viele der betroffenen Menschen in strukturschwachen Regionen, vor allem in Ostdeutschland leben. Die Wiedervereinigung und die vergangenen 30 Jahre waren zwar objektiv gesehen eine beeindruckende wirtschaftliche Erfolgsgeschichte: Kaum ein Land der Größe Deutschlands hat jemals einen solchen Konvergenzprozess erlebt, der in vergleichbar kurzer Zeit so viel wirtschaftlichen Wohlstand geschaffen hat. Viele Menschen im Osten sind trotzdem unzufrieden – sei es, weil sie andere Erwartungen hatten und andere Versprechungen gemacht wurden, sei es, weil sie sich als Menschen zweiter Klasse oder von Politik, Eliten und Medien ignoriert fühlen.

Selbstachtung durch Teilhabe

Die Unterscheidung von Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit als auch die Bedeutung von Würde und Selbstachtung, sind essenziell für die Debatten um die benötigten Reformen. Die Verbesserung der Leistungsgerechtigkeit sollte eigentlich noch der leichtere Teil der Reformen sein. Denn wenn mehr Menschen Chancen durch Bildung, gute Arbeitsmarktbedingungen und einen Abbau von Diskriminierung und Marktmissbrauch haben, schafft dies letztlich mehr Wohlstand und gleichzeitig mehr Teilhabe und weniger Ungleichheit. Auch wenn sich, wie die Diskussion beispielsweise um die Gleichstellung und Gleichberechtigung von Frauen zeigt, die Privilegierten hartnäckig dagegen wehren, ihre Vorteile aufzugeben.

Der zweite Bereich ist die Umgestaltung des Sozialstaats, der nicht nur absichern muss, sondern künftig viel stärker befähigend wirken sollte. Sicherlich ist eine ausreichende soziale Absicherung wichtig. Aber ein 35-jähriger Hartz-IV-Empfänger erhält durch höhere finanzielle Bezüge genauso wenig Selbstachtung und Würde wie eine alleinerziehende Mutter, der eine gute Kita oder Ganztagsschule fehlt und die allein schon dadurch geringe Chancen im Arbeitsmarkt hat.

Wir brauchen daher dringend einen ernsthaften Dialog darüber, wie Teilhabe und Chancen von Menschen verbessert werden können – zum Beispiel über ein solidarisches oder bedingungsloses Grundeinkommen.

Schutz und Wertschätzung der Würde des einzelnen Menschen, so wie es im Grundgesetz formuliert ist, steht im Zentrum unseres Gesellschaftsvertrags. Es ist müßig, darüber zu streiten, wie die Menschen sich fühlen sollten und ob ihre Unzufriedenheit und ihr Gefühl des Abgehängtseins nun gerechtfertigt sind. Tatsache ist, dass zu viele Menschen sich nicht ausreichend geschätzt und gewürdigt fühlen. Selbstachtung und Würde jedem einzelnen Menschen zu ermöglichen, ist und bleibt die drängendste Herausforderung für Politik und Gesellschaft heute.

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