Blog Marcel Fratzscher vom 16. August 2019
Die Abschaffung des Solidaritätszuschlags käme den Staat teuer, der wirtschaftliche Nutzen wäre gering. Von Bildung bis Generationengerechtigkeit warten große Aufgaben.
Das Argument derer, die eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags befürworten, klingt zunächst einleuchtend: Die Bundesregierung hat 1995 das Versprechen gegeben, dass die Erhebung des Solidaritätszuschlags zeitlich befristet sei. Nun sei es an der Zeit, es endlich einzulösen. Richtig ist, dass die Politik und das Funktionieren einer Gesellschaft von Vertrauen abhängen. Eine Politik, die sich selbst nicht an Versprechen hält, verliert ihre Legitimität und damit ihre Handlungsfähigkeit. Deshalb ist auch die Forderung vieler konsequent, der Soli müsse nicht nur für die unteren 90 Prozent, sondern für alle gleichermaßen, also auch für die Hochverdienenden, abgeschafft werden.
Dieser Beitrag ist am 16. August in der ZEIT ONLINE–Kolumne Fratzschers Verteilungsfragen erschienen. Hier finden Sie alle Beiträge von Marcel Fratzscher.
Als Anmerkung nebenbei: Ein Versprechen für die Abschaffung des Solis gab es so niemals, im Gesetz von 1995 wurde lediglich die "Überprüfung" des Solis versprochen.
Das Problem ist jedoch ein anderes: Diejenigen, die auf die Einhaltung des angeblichen Versprechens der Soli-Abschaffung pochen, agieren bei anderen gebrochenen Versprechen der Bundesregierung nachsichtiger. Dabei steht weniger im Vordergrund, ihre Anzahl gegeneinander abzuwiegeln. Wichtiger ist, welche Versprechen dringlicher eingelöst werden müssten.
Erinnern Sie sich noch an das Versprechen, die Rente sei sicher? Nicht nur Norbert Blüm hat als Arbeitsminister in den Neunzigerjahren dieses Versprechen mantraartig wiederholt. Wie will die Bundesregierung dieses Versprechen einlösen und finanzieren? Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin zeigt, dass die Altersarmut in den kommenden 20 Jahren stark ansteigen wird; jeder vierte Rentner könnte betroffen sein. Zu den gegenwärtig schon knapp 100 Milliarden Euro an Zuschüssen für die gesetzliche Rentenversicherung werden also nochmals viele Milliarden hinzukommen müssen, will die Bundesregierung dieses Versprechen auch nur halbwegs einlösen.
Die Bundesregierung hat 2013 jedem Kind einen rechtlichen Anspruch auf einen Kitaplatz zugesichert. Ein weitsichtiges und wichtiges Versprechen. Viele Fortschritte wurden seitdem gemacht. Trotzdem bleibt noch ein langer Weg, bis dieses Versprechen eingelöst ist, was wiederum einige zusätzliche Milliarden an Ausgaben des Staates erfordert.
Jede Bundesregierung hat immer wieder jedem Kind und Jugendlichen ein exzellentes Bildungssystem versprochen, das allen die gleichen Chancen im Leben eröffnet. Die OECD und verschiedene Studien haben unser Bildungssystem lediglich durchschnittlich bewertet, was deutlich zu wenig ist für ein Land, das seinen Wohlstand bewahren möchte.
Und die Bundesregierungen haben wiederholt Versprechen abgegeben, ihre Klimaziele einzuhalten und umzusetzen. Damit sind sie jetzt schon krachend gescheitert, zumindest was die Klimaziele bis 2020 angeht. Und wenn nicht sehr bald ein grundlegender Kurswechsel gelingt und auch der Staat deutlich mehr Geld ausgibt, um in erneuerbare Energien, energetische Gebäudesanierung, die Zukunft von Mobilität und andere Bereiche zu investieren, dann wird sie die Ziele auch künftig weit verfehlen.
Das Grundgesetz formuliert die Pflicht an die Politik, für gleichwertige Lebensbedingungen überall in Deutschland zu sorgen. Doch von diesem verpflichtenden Ziel bewegt sich Deutschland immer weiter weg. Es gibt nicht nur ein zunehmendes West-Ost-Gefälle, sondern auch ein Süd-Nord-Gefälle. Ein Drittel aller Kommunen ist überschuldet, und viele sind so strukturschwach, dass ihnen das Geld fehlt, Schulen instand zu halten, öffentliche Einrichtungen zu erhalten und all die Dinge zu tun, die für attraktive Bedingungen für Menschen und Unternehmen notwendig sind. Viele haben immer wieder Deutschlands riesiges Investitionsproblem angemahnt. Vor allem die Kommunen müssten entschuldet werden und finanziell mehr Autonomie erhalten. Kurzum, auch dieses Versprechen wird den Staat viele Milliarden kosten, nach manchen Schätzungen sind gut 30 Milliarden Euro an zusätzlichen öffentlichen Investitionen in Infrastruktur, Innovation und Bildung notwendig.
Die Politik hat auch international Versprechen abgegeben. So beispielsweise, 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für Entwicklungshilfe auszugeben – ein Ziel, das regelmäßig verfehlt wird. Und sie hat versprochen, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Entweder hat man vor einigen Jahren mit diesem Versprechen einen Fehler gemacht oder man hat gehofft, dass niemand auf dessen Einhaltung pochen würde. Ärgerlich nur, dass nicht nur die USA, sondern auch viele Länder in Europa Deutschland dafür nun an den Pranger stellen.
Kurzum, es gibt viele gebrochene oder noch nicht erfüllte Versprechen – die Abschaffung des Solis ist nur eines davon. Die Frage ist nun: Kann die Bundesregierung all ihre Versprechen und die ihrer Vorgängerinnen erfüllen? Die Antwort ist ein klares Nein. Denn selbst eine Stabilisierung des heutigen Rentenniveaus bei eh schon mageren 48 Prozent wird langfristig viele weitere Milliarden Euro des Staates verlangen, die die knapp 20 Milliarden Euro des Solis langfristig vergleichsweise gering aussehen lassen. Auch die Versprechen für Daseinsfürsorge, gleichwertige Lebensbedingungen und öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Innovation, über die es einen breiten Konsens gibt, werden deutlich darüberliegen.
Also muss die Bundesregierung priorisieren: Das wichtigste Kriterium sollte sein, welche der Versprechen den größten Nutzen für die gesamte Gesellschaft und auch künftige Generationen haben. Im Augenblick scheint es so zu funktionieren, dass derjenige, der am lautesten schreit, sich auch durchsetzt. Und dabei sind die Befürworter einer Soli-Abschaffung sehr laute Schreier. Die Stimmen für ein besseres Bildungssystem oder für strukturschwache Regionen und Kommunen dagegen sind relativ leise.
Die Abschaffung des Solis ist nicht nur recht teuer für den Staat, sondern würde kaum einen wirtschaftlichen Nutzen stiften. Vor allem die Topverdienenden werden das zusätzliche Geld nur zu einem sehr geringen Teil für Konsum oder Investitionen ausgeben. Die Abschaffung ist somit hauptsächlich eine Umverteilung von Arm zu Reich. Im Gegensatz dazu würden Investitionen in Klimaschutz, Infrastruktur, Bildung und Innovation einen sehr großen, auch langfristig wirtschaftlichen Nutzen für unsere Gesellschaft und künftige Generationen schaffen. Nach diesen wirtschaftlichen Kriterien ist die Soli-Abschaffung das absolute Schlusslicht in der Rangliste der noch nicht erfüllten Versprechen.
Ein zweites Kriterium ist das Prinzip der Gerechtigkeit. Viele würden sich eine Entlastung der Mittelschicht und Menschen mit geringerem Einkommen und bessere Löhne für Krankenpfleger, Kitabetreuer oder Sozialarbeiter wünschen. Andere, die auf die Abschaffung des Solis für alle pochen, argumentieren, die Entlastung der Topverdiener würde das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit in unserer Gesellschaft zwingend erfordern. Dabei setzen sie Leistung mit Einkommen gleich. Über Gerechtigkeit lässt sich heftig streiten. Jeder definiert sie anders. Es ist sicherlich Aufgabe der Politik, genau solche Debatten über Gerechtigkeit und Verteilung zu führen.
Es bleibt zu hoffen, dass sich nicht die Lautesten durchsetzen, sondern dass die Politik Maß und Mitte beibehält und sich fragt, was langfristig sinnvoll und gewinnbringend für die gesamte Gesellschaft ist.
Themen: Öffentliche Finanzen , Steuern