„Im Wahlergebnis der Grünen und der AfD bei der Europawahl spiegeln sich die gesellschaftlichen Divergenzen in Deutschland wider, die ihre Ursache vor allem in unterschiedlichen Lebensverhältnissen zwischen verschiedenen Regionen haben“, sagt Alexander Kritikos, Forschungsdirektor am DIW Berlin, gemeinsam mit Marcel Fratzscher und Christian Franz Autor der Studie. „Interpretiert als Signal eines Vertrauensverlusts in die Politik der beiden Regierungsparteien weist das Wahlergebnis und damit auch unsere Analyse darauf hin, dass die Politik in den vergangenen Jahren nicht genug geleistet hat, um möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland herzustellen. Nötig wäre eine langfristige Investitionsstrategie, damit strukturschwache Regionen nicht noch weiter abgehängt werden“, macht DIW-Präsident Marcel Fratzscher deutlich.

AfD erfährt hohen Zuspruch in Kreisen, in denen seit der Jahrtausendwende viele Menschen abgewandert sind
Für die Untersuchung haben die drei Autoren die Wahlergebnisse der Europawahl 2019 mit Strukturdaten der insgesamt 401 Kreise und kreisfreien Städte in Deutschland verknüpft. Dafür verwendeten sie insgesamt acht Variablen, die die „ökonomische Situation“ (gemessen etwa am verfügbaren Einkommen der Haushalte), die „strukturelle Verwundbarkeit“ (gemessen etwa an der Zahl der heutigen Arbeitsplätze, die künftig durch Maschinen ersetzt werden könnten) und die „demografische Entwicklung“ (gemessen am Alter der Bevölkerung und am Wanderungssaldo) beschreiben.
Demnach steigt die Zustimmung für die Grünen in Kreisen mit positiver demografischer Entwicklung besonders stark, also in Regionen mit vergleichsweise wenigen alten Menschen und höherer Zuwanderung. Auch ist die Partei umso stärker, je besser die ökonomische Situation in einem Kreis, also je höher das verfügbare Haushaltseinkommen ist und je niedriger die Arbeitslosigkeit. Dagegen schneiden die Grünen schlechter ab in Kreisen, in denen das Risiko für Arbeitsplatzverluste aufgrund der fortschreitenden Automatisierung hoch und die Wirtschaft tendenziell kleinteiliger ist. „Die Grünen scheinen insbesondere in Kreisen attraktiv zu sein, in denen das produzierende Gewerbe schwächer und wissensintensive Dienstleistungen stärker vertreten sind“, erklärt Christian Franz, wissenschaftlicher Referent am DIW Berlin.
Bei der AfD ist es genau andersherum: Sie erzielt vor allem in solchen Kreisen hohe Stimmanteile, in denen viele Menschen abgewandert sind, mehr Menschen ihren Arbeitsplatz von Automatisierung bedroht sehen, die Bevölkerung überdurchschnittlich alt ist und in denen die wirtschaftliche Lage zu wünschen übrig lässt.
Kurzfristige Maßnahmen, die die Einkommenssituation der Haushalte verbessern, greifen zu kurz
Auffällig ist, dass bei den Grünen wie auch bei der AfD die ökonomische Komponente einen geringeren Einfluss auf das Wahlergebnis hat als die Demografie und die strukturelle Komponente. „Dies spiegelt ganz offenbar die ungleichen Lebensverhältnisse in Deutschland wider“, so Alexander Kritikos. „Wir sprechen dabei über grundlegende Probleme wie Überalterung und Abwanderung, die dringend angegangen werden müssen.“ Nötig seien statt kurzfristig wirkender Maßnahmen zur Verbesserung der Einkommenssituation der Haushalte eher langfristige Maßnahmen, die Chancen für die Zukunft eröffnen. „Dazu zählen nicht zuletzt eine Stärkung der digitalen Infrastruktur, Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, um auf die Digitalisierung einzugehen, und eine ausreichende Finanzierung der Kommunen, damit diese in die Infrastruktur investieren können“, so Fratzscher.