Direkt zum Inhalt

Jetzt rächt sich die fehlende Solidarität

Blog Marcel Fratzscher vom 30. November 2021

Eine Impfpflicht könnte scheitern, werden nicht gleichzeitig die Ursachen der Impfverweigerung adressiert. Nur so lässt sich glaubhaft an den Zusammenhalt appellieren.

Die Empörung darüber, dass ein Drittel der deutschen Bevölkerung nicht geimpft ist, nimmt stetig zu. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer spricht von einer Spaltung der Gesellschaft: Sie würde zwar immer offensichtlicher, man könne sie aber bei der Pandemiebekämpfung nicht in den Mittelpunkt stellen.

Diese Kolumne erschien erstmals am 27. November 2021 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Natürlich müssen Politik und Gesellschaft nun schnell und entschieden handeln, um die drohende humanitäre Katastrophe in unseren Krankenhäusern zu bewältigen. Eine Impfpflicht und andere harte Maßnahmen – so logisch und konsequent sie auch sind – könnten jedoch scheitern, unsere Gesellschaft noch stärker polarisiert werden, wenn nicht gleichzeitig die Ursachen der Impfverweigerung adressiert werden. Das ist keine Nebensächlichkeit, sondern gehört sehr wohl in den Fokus der Krisenbewältigung.

Deutschland hat eine schockierend geringe Impfquote gegen Covid-19. Trotz vielfältiger Bemühungen wie mobiler Impfteams, öffentlicher Werbung und kostenloser Thüringer Bratwürste konnten jeder und jede fünfte Impfberechtigte nicht vom Impfen überzeugt werden. Wir sollten als Gesellschaft nicht den Fehler machen, diese Weigerung ausschließlich auf Querdenken oder Fehlinformationen zu schieben. Fast jeder siebte Mensch über 60 Jahre hat sich bisher nicht impfen lassen und geht damit ein enormes Risiko für die eigene Gesundheit ein. Wir machen es uns nicht nur zu einfach, wenn wir dies nur als Idiotie oder Egoismus abtun. Sondern wir verhindern damit, Lösungen zu finden. 

Die Impfunwilligen sind nicht zufällig in der Gesellschaft verteilt. Sie konzentrieren sich stark in bestimmten Gruppen und Regionen: Es sind vor allem Menschen mit niedrigen Einkommen und geringen Chancen am Arbeitsmarkt sowie Menschen in strukturschwächeren Regionen – im Osten und am Rande der Gesellschaft in den Städten –, die sich hartnäckig weigern, sich impfen zu lassen.

Eine neue Studie des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt zeigt, dass in der ersten und zweiten Infektionswelle die politische Stärke der AfD und der Anteil der Corona-Infizierten sehr stark korrelierte. Mit jedem zusätzlichen Prozentpunkt der AfD-Zweitstimmen steigt der Anteil der Infizierten um 2,2 Prozentpunkte. Und auch jetzt in der vierten Welle ist die Anzahl der Nichtgeimpften und der Neuinfizierten besonders in solchen Kreisen hoch, in denen die AfD stark ist. Es wäre jedoch zu einfach und auch falsch, diese Impfverweigerung mit AfD-Wählerschaft gleichzusetzen – zumal die AfD in der Bundestagswahl 2021 gegenüber 2017 Stimmen verloren hat.

An den Rand der Gesellschaft gedrängt

Ein Grund, warum diese Gruppen bisher nicht erreicht wurden, liegt sicherlich in einer katastrophalen Kommunikation. Allerdings ist der wohl wichtigere Grund für das Scheitern, dass diese Gruppen schon länger an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden sind. Politik und Medien sind für sie zu Feindbildern geworden, die nicht die eigene Sprache sprechen, sondern vermeintlich Interessen der mächtigen Eliten vertreten. Der strukturelle Grund für die vielen Impfunwilligen ist also vielmehr der abnehmende gesellschaftliche Zusammenhalt. Das sollte uns nicht überraschen, denn diese soziale Polarisierung zeichnet sich bereits seit zwei Jahrzehnten ab und spiegelt sich nur oberflächlich in Pegida, der AfD und einer zunehmenden Systemkritik wider.

Die Unzufriedenheit vieler Menschen, vor allem in Ostdeutschland, ist hinlänglich bekannt. Viele empfinden eine fehlende Wertschätzung für ihre Lebensleistung und fühlen sich zunehmend abgehängt. Dabei ist beispielsweise der Anteil an AfD-Wählenden und bisher Ungeimpften nicht unbedingt in solchen Wahlkreisen am höchsten, die wirtschaftlich schwach sind, sondern dort, wo die Perspektivlosigkeit groß ist, viele junge Menschen abwandern und ihre Heimat zurücklassen.

Auch in der Pandemie haben viele der Menschen mit geringen Einkommen und Chancen am wenigsten Unterstützung erhalten. So sind fünf Millionen Minijobberinnen durch das Raster der Wirtschaftshilfen gefallen, da sie keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben. Vielen Menschen in den sogenannten systemrelevanten Berufen wurden Versprechungen gemacht, von denen bisher nur wenige eingehalten wurden. Dabei zeigen Studien am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), dass systemrelevante Berufe in Deutschland ungewöhnlich niedrige Löhne und wenig Wertschätzung erfahren und zudem häufiger von Frauen ausgeübt werden.

Das Wir-Gefühl stärken

Wir wissen seit über 100 Jahren, dass Solidarität mit die wichtigste Voraussetzung ist, um große Krisen wirtschaftlich, sozial und politisch gut zu meistern. Der russische Philosoph Pjotr Kropotkin stellte diese These auf. Er widersprach damit dem dominierenden Sozialdarwinismus der Zeit und war fest davon überzeugt, dass Krisen nur mit einer starken Gemeinschaft und hohem gesellschaftlichen Zusammenhalt bewältigt werden können. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Kropotkin recht behielt: Nicht nur Pandemien, sondern auch Kriege, Naturkatastrophen und große Wirtschaftskrisen wurden und werden von solchen Gesellschaften deutlich besser überwunden, die ein hohes Maß an Solidarität mit ihren schwächsten und verletzlichsten Mitgliedern zeigen.

Und hier hat Deutschland versagt: Wir haben einen starken Sozialstaat, in dem jedoch zu viele Menschen durchs Raster fallen, keine Berücksichtigung finden und eine fehlende Wertschätzung erfahren. Natürlich muss die Politik in der aktuellen Notsituation schnell und entschieden handeln, wozu auch schärfere Einschnitte für ungeimpfte Menschen gehören, da von ihnen die größten Risiken für die Gemeinschaft ausgehen.

Eine Impfpflicht allein läuft nicht nur Gefahr, kaum durchsetzbar zu sein, sondern sie könnte die Polarisierung und den Widerstand weiter verschärfen. Analysen zu anderen Krankheiten zeigen, dass eine Impfpflicht in der Vergangenheit nicht immer erfolgreich war. Anstelle über die fehlende gesellschaftliche Verantwortung der Menschen zu klagen, müssen wir uns die Ursachen für dieses Verhalten vor Augen führen und adressieren.

Zusammenhalt auch in anderen Bereichen demonstrieren

Eine Impfkampagne, die ausschließlich auf mehr Druck und Zwang setzt, könnte ihre Ziele verfehlen. Genauso wichtig – wenn nicht wichtiger – ist es, deutlich mehr auf Solidarität zu setzen und das Wir-Gefühl zu stärken. In der Kommunikation muss es wieder mehr darum gehen, dass wir mit einer Impfung die Älteren, die Vorerkrankten und andere Risikogruppen schützen, den Pflegerinnen und Pfleger eine dringende Entlastung verschaffen und den Kindern eine sorgenfreiere Kindheit und gute Bildung in Schulen und Kitas ermöglichen.

Glaubhaft können wir in der Impffrage nur an die Solidarität appellieren, wenn wir auch in anderen Bereichen einen stärkeren Zusammenhalt demonstrieren: Pflegerinnen und Pfleger insbesondere auf den Intensivstationen brauchen dringend einen nennenswerten Corona-Bonus. Dass die Ampel-Koalition ankündigte, eine Milliarde Euro dafür bereitzustellen, ist ein erster Schritt. Mittelfristig brauchen die Pflegekräfte aber auch bessere Arbeitsbedingungen. Menschen in systemrelevanten Berufen insgesamt müssen mehr Anerkennung erfahren. Und möglichst viele Beschäftigte in Minijobs müssen in eine sozialversicherungspflichtige Anstellung kommen, um so vor allem in der Krise deutlich besser abgesichert zu sein.

Nur so werden wir in Deutschland diese Pandemie wirklich bewältigen können – und nicht mit einer noch weiter gespaltenen Gesellschaft und zunehmenden sozialen Konflikten enden.

Themen: Gesundheit

keyboard_arrow_up