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Die unbegründete Angst vor der Lohn-Preis-Spirale

Blog Marcel Fratzscher vom 19. April 2022

Ordentliche Lohnerhöhungen sind in der derzeitigen Krise nicht nur möglich. Sie sind sogar nötig, um die Wirtschaft zu stabilisieren.
Seit einigen Wochen wird immer wieder vor der sogenannten Lohn-Preis-Spirale gewarnt. Beschäftigte und Gewerkschaften könnten demnach die hohe Inflation "missbrauchen" und auf exorbitante Lohnsteigerungen drängen, die wiederum die Inflation befeuern und letztlich einen erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten würden, so lautet die Argumentation. Einige verweisen auf die vermeintliche Erfahrung der Siebzigerjahre und warnen vor einer sogenannten Stagflation, also viele Jahre mit hoher Inflation, geringem Wachstum und steigender Arbeitslosigkeit. Bei sorgfältiger Betrachtung zeigt sich jedoch, dass dieses Narrativ in das Reich der Fabeln gehört. Mehr noch: Ordentliche Lohnerhöhungen sind auch in dieser Krise nicht nur möglich, sondern sogar nötig, um die Wirtschaft zu stabilisieren.

Dieser Text erschien erstmals am 22. April 2022 auf ZEIT ONLINE.

Zuerst einmal sollten wir mit dem Mythos der schädlichen Stagflation der Siebzigerjahre aufräumen. Zum einen ist es falsch, dass die durch den ersten Ölpreisschock von 1973 ausgelöste und durch indexierte, also an die Inflation gekoppelte Löhne befeuerte Inflation Deutschland damals in eine schädliche Stagflation getrieben habe. Die Fakten entkräften dieses Narrativ: Schließlich waren die Siebzigerjahre für Deutschland vor allem wirtschaftlich gute und auch die deutlich erhöhte Inflation, mit jährlichen Raten von zeitweise über sieben Prozent, hat dem Wirtschaftsmodell und der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen nicht geschadet.

Außerdem lässt sich die heutige Situation nicht mit damals vergleichen. Die Gewerkschaften sind heute deutlich schwächer, nur noch knapp die Hälfte aller Jobs ist über Tarifverträge abgedeckt und die Löhne sind schon seit Langem nicht mehr indexiert. Zudem kenne ich keine einzige Prognose, die der deutschen Wirtschaft für die kommenden fünf Jahre eine Stagnation oder Schrumpfung voraussagt. Müssen wir uns also wirklich sorgen, dass es zu einer schädlichen Lohn-Preis-Spirale kommt? 

Die Lohnentwicklung ist erstaunlich schwach

Um diese Frage zu beantworten, sollte man zunächst die Entwicklung der Löhne in Deutschland betrachten – und die ist erstaunlich schwach. Die Reallöhne und damit die Kaufkraft der Einkommen sind 2020 und 2021 deutlich geschrumpft. Nicht anders dürfte es in diesem Jahr aussehen: Nominal dürften die Löhne laut einer Umfrage des ifo Instituts 2022 um durchschnittlich 4,7 Prozent steigen, die Preise aber wohl um über sechs Prozent. Die meisten Lohnabschlüsse gelten zudem nicht nur für das laufende Jahr, sodass auch im Jahr 2023 mit höchstens leicht steigenden Reallöhnen zu rechnen ist.

Die Schuldenbremse zieht nicht mehr

Viele trauen dieser Argumentation nicht. Sie sehen in der massiven Anhebung des Mindestlohns von 9,60 auf 12 Euro – also um mehr als 20 Prozent – einen Beleg dafür, wie vermeintlich exorbitante Lohnsteigerungen die Inflation befeuern könnten. In der Tat werden fast zehn Millionen Menschen und damit jeder fünfte Beschäftigte durch diese Anhebung deutlich mehr Lohn erhalten. Aber Tatsache ist auch, dass selbst eine so starke Lohnerhöhung für so viele Menschen die Inflation in Deutschland nur um 0,3 bis 0,4 Prozentpunkte erhöhen dürfte – und dies zudem nur einmalig, da sich in den Folgejahren die Mindestlohnanpassung wieder an der allgemeinen Lohnentwicklung orientieren wird.

Wer vor einer Lohn-Preis-Spirale warnt, führt als Argument außerdem gerne an, dass die gegenwärtige Situation zu einer massiven Explosion der Kosten für viele Unternehmen führe, sodass diese nicht noch zusätzlich viel höhere Löhne verkraften könnten. Auch dieses Argument kann für viele Branchen größtenteils entkräftet werden. Denn die Lohnstückkosten – die Lohnkosten ins Verhältnis zu einer bestimmten Leistungseinheit (beispielsweise ein Produkt oder eine Dienstleistung) setzen und ein wichtiges Maß für die Kosten sind – werden 2022 um 2,2 Prozent und 2023 um 2,1 Prozent und damit voraussichtlich recht schwach steigen. Viele Unternehmen gaben zudem in einer Umfrage im März 2022 an, dass sie bereit wären, besonders umworbenen Beschäftigten Lohnsteigerungen von über zehn Prozent zuzugestehen. Zudem schrumpft die deutsche Wirtschaft nicht, sondern wächst in diesem Jahr real um voraussichtlich mehr als zwei Prozent. Wieso sollen also nicht auch die Beschäftigten zumindest einen Anteil an diesem Wachstum erhalten?


Lohnsteigerungen können exzessiv, aber auch zu schwach sein

Zudem dürften sich ordentliche Lohnsteigerungen gesamtwirtschaftlich stabilisierend auswirken. Denn ein Schrumpfen der Reallöhne bedeutet, dass die Kaufkraft der Konsumentinnen und Konsumenten und somit auch die Nachfrage schrumpft. Unternehmen machen dann weniger Umsatz, können nur noch geringere Löhne zahlen oder müssen eventuell sogar Beschäftigte freistellen. Daher ist eine Lohnentwicklung, die sich an der jeweiligen Produktivität und den Kosten orientiert, gesamtwirtschaftlich sinnvoll.

Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen verschiedenen Unternehmen und Branchen. Für manche hart getroffene Sektoren mag ein Verzicht auf Lohnsteigerungen genauso richtig sein, wie starke Steigerungen für andere angemessen sein können. Zudem sollten die Tarifpartner die Finanzpolitik und die Hilfen des Staates an Beschäftigte berücksichtigen, so etwa die Energiepauschale

Eine zu schwache Lohnentwicklung kann genauso schädlich für die Wirtschaft sein wie zu starke Lohnerhöhungen. Die Angst vor einer Lohn-Preis-Spirale aber ist unbegründet. Der Anstieg des Mindestlohns auf zwölf Euro ist vielleicht das effektivste und sozialste Instrument, um in dieser Krise die Kaufkraft von Menschen mit geringen Einkommen zu stabilisieren. Und auch für alle anderen ist eine Orientierung der Lohnentwicklung an der Inflationsrate, zumindest für die kommenden zwei Jahre, durchaus gerechtfertigt. Gesamtwirtschaftlich dürfte eine ordentliche Lohnentwicklung stabilisierend wirken und kann helfen, vor allem die von der Corona-Pandemie schwer gebeutelten Dienstleistungssektoren zu stützen.

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