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Eine Verpflichtung zu einem sozialen Jahr ist falsch

Blog Marcel Fratzscher vom 17. Juni 2022

Sollen junge Menschen ein soziales Pflichtjahr leisten? Der Bundespräsident stößt eine wichtige Debatte über Solidarität an – aber es gibt bessere Lösungen.

Dieser Text erschien am 17. Juni 2022 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat mit seinem Vorschlag eines verpflichtenden sozialen Jahres eine wichtige Debatte neu angestoßen. Sie unterstreicht eine große und zunehmende Schwäche in unserer Gesellschaft: die Illusion von Solidarität und die wachsende soziale Polarisierung. Die Forderung nach einem verpflichtenden sozialen Jahr ist letztlich das Eingeständnis des Scheiterns von Politik und Gesellschaft, unser Zusammenleben solidarisch zu gestalten und sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten. Eine Demokratie muss vorsichtig mit Einschränkungen individueller Freiheit sein. Eine Verpflichtung, einen Dienst an der Gesellschaft abzuleisten, sollte es nicht geben – es gibt bessere Alternativen.

Doch schauen wir uns die Ausgangslage an: Auch wenn wir Deutschen auf unsere soziale Marktwirtschaft zu Recht stolz sind und es nicht gerne hören: Die soziale Polarisierung in Deutschland ist stärker ausgeprägt als in vielen vergleichbaren Demokratien – und sie ist in den letzten Jahren größer geworden. Fast nirgendwo in der westlichen Welt ist die Ungleichheit der Chancen im Bildungssystem so hoch wie in Deutschland. Fast nirgends hängen die Bildungschancen, das Einkommen und Gesundheit so stark von Bildung und Einkommen der Eltern ab wie bei uns. Die Aufstiegschancen sind in Deutschland fast genauso gering wie in den USA, wo ein großer Teil des Bildungssystems privat und ein starker Sozialstaat abwesend sind.

Deutschland hat außerdem einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa, bei dem mehr als jede und jeder fünfte Beschäftigte zu so geringen Stundenlöhnen arbeitet, dass er oder sie häufig kaum über die Runden kommt. Fast 40 Prozent der Deutschen haben kein oder kaum Erspartes, können nicht vorsorgen und sind abhängig von den Leistungen des Sozialstaats. Systemrelevante Berufe, die in der Pandemie überlebensnotwendig waren, erhalten weniger Wertschätzung, eine schlechtere Bezahlung und werden meist von Frauen gemacht. Trotz der Lehren der Pandemie scheint sich daran wenig zu ändern. Genauso wenig wie an der Tatsache, dass die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsmarkt bei Löhnen, Arbeitszeit, Karrieremöglichkeiten und Arbeitsbedingungen mit am höchsten in der westlichen Welt ist. Und auch die Spaltung zwischen Ost und West ist längst noch kein Problem der Vergangenheit.

Soziale Polarisierung zeigt auch Scheitern der Politik

Man könnte diese Liste um viele weitere Punkte ergänzen. Und auch wenn es in den vergangenen beiden Jahrzehnten gute und wichtige Fortschritte gab – zum Beispiel bei der frühkindlichen Bildung, der Elternzeit oder am Arbeitsmarkt – so ist und bleibt Tatsache: Die starke soziale Polarisierung folgt keinem Naturgesetz, sondern sie ist auch durch das Scheitern der Politik verursacht. Eine Reformstarre in vielen Bereichen hat in Deutschland zu häufig zu verkrusteten Strukturen geführt und die Solidarität geschwächt. Der Sozialstaat beschränkt sich zu sehr darauf, Probleme zu verwalten, statt Menschen zu mobilisieren und zu befähigen.

Daher ist es richtig, dass der Bundespräsident die überfällige Debatte über Solidarität einfordert. Und es gibt auch gute Argumente für eine Verpflichtung für jeden jungen Menschen, einen sozialen oder sonst wie gemeinnützigen Dienst abzuleisten. Ein solches Engagement kann die Solidarität zwischen Generationen und den Zusammenhalt sozialer Gruppe verbessern, eine soziale Komponente im Leben kann ein wichtiger Teil der Persönlichkeitsentwicklung sein und es bringt durchaus auch einen Mehrwert für die spätere berufliche Tätigkeit. Zudem ist der Bedarf an Arbeitskräften in sozialen Berufen so enorm, dass 600.000 zusätzliche Arbeitskräfte durch ein verpflichtendes soziales Jahr die akute Notlage etwas lindern könnten.

Aber trotz aller guter Argumente ist ein Zwang zu einem sozialen Jahr falsch. Denn es handelt sich um eine zu harte Einschränkung der Freiheit des Einzelnen, die nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt sein kann, um die Freiheit anderer zu schützen. Anstelle über eine Pflicht zu Solidarität zu debattieren, sollte es vielmehr um die Frage gehen, wie wir das Bewusstsein junger Menschen über den Wert von Solidarität schärfen können. Es ist die Verantwortung der Generation der Eltern und Großeltern, junge Menschen von der Bedeutung von Solidarität, Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich zu überzeugen. Die Verantwortung dafür liegt bei den Schulen, aber auch bei der Politik und den Medien. Zu häufig geht es in der Politik um den Schutz mächtiger Interessen der Privilegierten und zu selten um sozialen Ausgleich und wirkliche Chancengleichheit.

Solidarität lässt sich nicht verordnen. Anstelle von Paternalismus gegenüber jungen Erwachsenen sollten wir deren Meinung und Wünsche stärker berücksichtigen, beispielsweise in Bezug auf Klimaschutz und Nachhaltigkeit. So wie wir als Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten bewusst mit Natur und Umwelt umgegangen sind, haben die Alten kein Recht, von den Jungen mehr Gerechtigkeit und Solidarität einzufordern. Das Gegenteil ist der Fall: Die älteren Generationen müssen endlich ihrer eigenen Verantwortung gegenüber künftigen Generationen gerecht werden.

Politik sollte nicht auf Zwang, sondern Überzeugung setzen

Zudem gibt es bessere Wege, um die legitimen Ziele des Bundespräsidenten und anderer Befürworter zu verfolgen. Statt auf Zwang und Verpflichtung sollte die Politik in einer Demokratie auf Überzeugung und Menschlichkeit setzen. So könnte sie, anstelle eines Hungerlohns, eine gute Bezahlung für ein freiwilliges soziales Jahr anbieten – mit attraktiven Bedingungen, wie Möglichkeiten des Wechsels beispielsweise ins Ausland.

Ein freiwilliges soziales Jahr, so wie es dies zum Teil schon gibt, könnte stärker als Bonus für den Zugang zu Ausbildung und Studium gelten oder eine finanzielle Aufstockung von Ausbildungspauschalen oder Studiengeldern nach dem sozialen Jahr beinhalten. Zudem müssen soziale Berufe attraktiver werden, vor allem bei Bezahlung und auch bei den Arbeitsbedingungen. Nur so lässt sich der Fachkräftemangel in den sozialen Berufen verringern.

Statt von jungen Menschen soziale Leistungen einzufordern, sollte die Gesellschaft ihnen bessere Startchancen geben. Neben einem besseren Bildungssystem sollte auch das vom Ostbeauftragten der Bundesregierung, Carsten Schneider, wieder vorgeschlagene und vom DIW Berlin seit Langem unterstützten Startgeld von 20.000 Euro für jeden jungen Menschen umgesetzt werden. Sie hätten damit mehr Freiheiten, ihre eigene Zukunft zu gestalten – und einige könnten dieses Geld für Auszeiten für soziale Arbeit nutzen.

Solidarität und gesellschaftlicher Zusammenhalt lassen sich nicht per staatlichem Dekret verordnen. Und Freiheit ist ein hohes Gut, das nur mit guter Begründung eingeschränkt werden darf. Der Bundespräsident hat zwar recht, die ausgeprägte soziale Polarisierung ist eines der größten Probleme für unsere heutige Gesellschaft. Aber Politik und Gesellschaft müssen die Ursachen für das Scheitern bei Solidarität und Zusammenhalt adressieren – durch mehr Chancengleichheit, Bekämpfung von Diskriminierung jeglicher Art und mehr Generationengerechtigkeit bei Klimaschutz und anderswo. Und sie sollten junge Menschen unterstützen und ihnen aufzeigen, wieso sie selbst von Solidarität und sozialen Engagement profitieren, für ihr eigenes Leben und für die Gesellschaft.

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