Blog Marcel Fratzscher vom 10. Juli 2023
Bundesfinanzminister Christian Lindner will die Schuldenbremse einhalten, mehr Investitionen, aber keine Steuererhöhungen. So erreicht er nichts davon.
Dieses ZEIT ONLINE Kolumne erschien in der Reihe Fratzscher Verteilungsfragen am 7. Juli 2023.
Der vom Bundeskabinett beschlossene Haushalt 2024 ist essenziell für die Frage, ob Deutschland gute Arbeitsplätze halten, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sichern und die wirtschaftliche und ökologische Transformation erfolgreich bewältigen kann. Ein Haushalt kann nie allen und allem gerecht werden kann, aber dieser ist eine große Enttäuschung. Er ist keineswegs eine "finanzpolitische Zeitenwende", der von "haushaltspolitischer Solidität" gekennzeichnet ist, wie es Bundesfinanzminister Christian Lindner behauptet. Sondern er wird Wohlstand und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands weiter schwächen und die Polarisierung der Gesellschaft weiter verschärfen.
Der Bundesfinanzminister versucht mit seinem Haushalt die Quadratur des Kreises: Er will die Schuldenbremse einhalten und gleichzeitig mehr Zukunftsinvestitionen, aber keine Steuererhöhungen. Eine ehrliche Bewertung zeigt, dass der Haushalt keines dieser drei Ziele erreicht. Zwar tritt die Schuldenbremse 2024 rechtlich wieder in Kraft. Dies ist jedoch nur durch mehrere Schattenhaushalte wie das Sondervermögen für die Bundeswehr und den Klima- und Wirtschaftsstabilisierungsfonds möglich. Dort werden weitere Milliardenausgaben getätigt, ohne dass sie für die Schuldenbremse zählen. Dies ist sicherlich verzeihbar, denn es ist ein pragmatischer Umgang mit einer Schuldenbremse, die blind gegenüber den Bedürfnissen von Wirtschaft und Gesellschaft und schlichtweg nicht mehr zeitgemäß ist.
Explizit ist es im Bundeshaushalt zwar nicht geplant, Steuern zu erhöhen, de facto führt der Haushaltsplan aber zu einer deutlich stärkeren finanziellen Belastung, vor allem für Menschen mit mittleren und geringen Einkommen. Der Bundesfinanzminister hat versprochen, der Staat dürfe nicht Gewinner der Inflation sein. Dennoch gibt er durch das Abschmelzen der kalten Progression zusätzliche Steuereinnahmen bei der Einkommensteuer mit 15 Milliarden Euro pro Jahr primär an Spitzenverdiener*innen. Menschen mit geringen und mittleren Einkommen erhalten dagegen wenig bis gar nichts, obwohl auch sie mehr Steuern zahlen, vor allem indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer.
Der Staat bleibt zudem sein Versprechen schuldig, die zusätzlichen Steuereinnahmen durch den CO₂-Preis in der Form eines Klimagelds vor allem auch an Menschen mit mittleren und geringen Einkommen zurückzugeben. Und der neue Haushalt sieht deutliche Kürzungen bei sozialen Leistungen vor. Dies ist zwar keine explizite Steuererhöhung, wirkt jedoch für die Menschen so: Sie werden mehr sparen müssen, weil der Staat einen Teil seines Versprechens der Daseinsvorsorge zurücknimmt.
Für das Steuersystem ist der Bundeshaushalt 2024 ebenfalls eine verpasste Chance. Denn auch ohne Steuererhöhungen hätte die Bundesregierung durch die Abschaffung von Ausnahmen und Privilegien – wie bei der Erbschaftsteuer, bei Immobilien, durch die sogenannte Mövenpicksteuer und das Dienstwagenprivileg – viele Milliarden Euro an zusätzlichen Einnahmen generieren oder Ausgaben einsparen können.
Als Drittes wird der Bundeshaushalt dem Versprechen der Zukunftssicherung nicht gerecht, vor allem weil die öffentlichen Investitionen nach wie vor viel zu gering sind und keine positiven Impulse für private Investitionen und die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen setzen. Die öffentlichen Investitionen in die Digitalisierung sind kläglich gering, die Deutsche Bahn erhält nur ein Drittel des benötigten Geldes und die Ausgaben für Bildung, Forschung und Entwicklung werden sogar gekürzt.
Dies ist genau das Gegenteil der versprochenen "haushaltspolitischen Solidität". Der deutsche Staat wird weiterhin von seiner Substanz leben, Unternehmen und die Bevölkerung werden immer schlechtere Rahmenbedingungen haben. Die Folge ist der Verfall von Straßen, Brücken, Schulgebäuden und anderen öffentlichen Einrichtungen. Auch der internationale Rückstand im Bildungssystem und die Kosten für private Investitionen werden sich in Deutschland weiter verschlechtern. Die Solidität der Staatsfinanzen wird nicht primär durch die Höhe der Schulden, sondern durch die Vermögen, die Stärke der Wirtschaftsstruktur und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bestimmt.
Das vielleicht größte Versagen der Finanzpolitik ist, dass sie mit dem eingeschlagenen Kurs die soziale Schieflage in Deutschland weiter verschärfen wird. Die wichtigste Priorität dieses Bundeshaushalts scheint die Zementierung des Status quo ante zu sein und den Spitzenverdiener*innen nicht weh tun zu wollen. Er entlastet diese Gruppe weiterhin mit 15 Milliarden Euro, drückt aber die Ausgaben für die Kindergrundsicherung von zwölf Milliarden auf zwei Milliarden Euro. Er kürzt die Ausgaben für Bildung und für die Sozialsysteme. Und er lässt die Kommunen weiterhin allein in ihrem Kampf, den Menschen eine gute Daseinsvorsorge zu bieten und gleichzeitig die großen Herausforderungen wie der Integration der Geflüchteten zu bewältigen.
Die Konsequenz auch einer solchen Finanzpolitik ist in einigen unserer Nachbarländer zu sehen. Die Unruhen und das Aufbegehren so vieler junger Menschen in Frankreich sollte uns eine Warnung dafür sein, was passiert, wenn die Politik die Bedürfnisse und Nöte gerade der verletzlichsten Menschen einer Gesellschaft ignoriert.
Es ist vielsagend, dass der Bundesfinanzminister in einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lediglich ein einziges Beispiel für seine sogenannte "finanzpolitische Zeitenwende" erwähnt. Dies ist sein "Generationenkapital", für das der deutsche Staat zehn Milliarden Euro an den Kapitalmärkten anlegt, um ab 2035 die gesetzliche Rente sehr geringfügig verbessern zu können. Eine wirkliche finanzpolitische Zeitenwende wäre es, jetzt in die Zukunft von Menschen, Gesellschaft und Wirtschaft zu investieren. Das würde umfassende öffentliche Investitionen mit einer klugen, sozialen Ausgestaltung erfordern – dies ist eine zentrale Voraussetzung, um Deutschland wirklich zukunftsfähig zu machen.
Themen: Öffentliche Finanzen , Ungleichheit