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Politische Wissenschaftler 

Bericht vom 6. Februar 2012

von Bert Rürup

Der Namensbeitrag ist in ähnlicher Fassung im Handelsblatt am 4.02.2012 unter dem Titel "Wenn Wissenschaftler Politiker beraten" erschienen.

Demokratie bedeutet durch Wählermehrheiten legitimierte Herrschaft auf Zeit. Politik in einem demokratischen Staat zielt darauf ab, im Interesse der Erhaltung oder der Erlangung der Regierungsmacht Missstände oder Fehlentwicklungen zu beseitigen oder – im Idealfall – zu verhindern. Wissenschaft demgegenüber besteht in der systematischen Suche nach logisch stimmigen und – für den Bereich der Natur- und Gesellschaftswissenschaften – empirisch belastbaren Aussagen. Die „Wissenschaftlichkeit“ zum Beispiel einer ökonomischen Aussage hängt deshalb nicht davon ab, ob sie vom Chefvolkswirt einer Gewerkschaft, einer Bank oder einem „unabhängigen“ Universitätsprofessor stammt.

Auf politische Entscheidungsprozesse können Wissenschaftler über zwei Kanäle Einfluss nehmen – durch Begutachtung oder durch Beratung. Begutachtung bedeutet die von Vorgaben freie Analyse eines Problems – sei es die Beurteilung der wirtschaftlichen Konvergenz in Ost- und Westdeutschland oder die der Entwicklung an den Kapitalmärkten. Wenn sich der Sachverständigenrat, der Wissenschaftliche Beirat beim Finanzministerium, Gustav A. Horn, Thomas Mayer, Hans-Werner Sinn, Gert G. Wagner oder wer auch immer in Gutachten, Büchern, Aufsätzen oder Interviews an die Öffentlichkeit wenden und erklären, wie z.B. die Krise des Eurosystems zu bewältigen oder der Staatshaushalt zu sanieren ist, fühlen sie sich alle dem öffentlichen Interesse verpflichtet. Nur, keiner dieser Ökonomen weiß, was das „Allgemeinwohl“ ist oder was die deutsche Bevölkerung wirklich will. Sie urteilen nach bestem Wissen und Gewissen, und empfehlen das, von dem sie überzeugt sind, dass dies das Richtige und daher gut für das Volk sei. Ist der so erzeugte mediale Druck hoch genug, können auf diese Weise politische Entscheidungen beeinflusst werden.

Wissenschaftliche Politikberatung ist aber etwas anderes. Beratung muss immer einen konkreten Adressaten haben: die Regierung, eine Oppositionspartei oder einen Verband. Das Ziel sind Handlungsempfehlungen – inhaltlicher oder kommunikativer Natur – und zwar unter Beachtung der Zielvorstellungen und der Entscheidungsrestriktionen des jeweiligen Adressaten. Letztendlich muss ein Berater die Ziele des Beratenden akzeptieren und damit auch dessen Erfolg wollen. Da es nicht die eine, für alle Euroländer gleichermaßen richtige oder beste Lösung für die aktuellen Schwierigkeiten gibt, liegt es auf der Hand, dass die wissenschaftlichen Berater von Frau Merkel zu anderen Empfehlungen kommen, als die Berater der Herren Papademos oder Sarkozy.

Im Gegensatz zur „objektiven“ Begutachtung wird die „interessengeleitete“ Beratung bei uns nicht selten als unvereinbar mit dem – vermeintlich - werturteilsfreien wissenschaftlichen Arbeiten angesehen. Anders im angelsächsischen Raum oder auch in Frankreich – dort genießt diese wissenschaftliche Politikberatung sehr viel höheres Ansehen und hat eine neiderweckend gestaltende Tradition. Hier ist man dem bei uns verbreiteten Missverständnis von Werturteilsfreiheit und Unabhängigkeit der Wissenschaft nicht aufgesessen, und es wird klarer als bei uns zwischen Begutachtung im Interesse einer möglichst unabhängigen und sachgerechten Information der Öffentlichkeit und politischer Beratung im Sinne einer Dienstleistung für die Regierung oder die Opposition unterschieden. Die „Wissenschaftlichkeit“ der Beratung wird nicht in Frage gestellt, und es ist eine Selbstverständlichkeit, dass Wissenschaftler in ihrer Karriere die Rollen des unabhängigen Begutachters und des gebundenen Beraters wechseln: Der US-amerikanische Ökonom Martin Feldstein z.B. machte sich seit 1969 als Universitätsprofessor in Harvard einen Namen, arbeitete von 1982 bis 1984 als Vorsitzender des persönlichen ökonomischen Beraterstabs von Präsident Ronald Reagan und wurde danach Vorsitzender des NBER, der wichtigsten überparteilichen, nicht profitorientierten wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsorganisation der USA. Josef Stiglitz war Chefberater von Bill Clinton, dann Chefökonom der Weltbank, erhielt danach den Nobelpreis und unterstützt derzeit Protestbewegungen wie Occupy. Beide sind keine schlechteren Wissenschaftler geworden, weil sie Politikern zugearbeitet haben, deren Wertvorstellungen sie teilten.

Politische Entscheidungen – z.B. in Verteilungsfragen – sind oft Werturteile, bei denen es kein „richtig“ oder „falsch“ gibt. Wissenschaftler können deshalb nie die besseren Politiker sein, aber die Politiker können ihren Auftrag besser erfüllen, wenn sie von Wissenschaftlern beraten werden.
 

Bert Rürup ist Vorsitzender des Kuratoriums des DIW Berlin

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