Wissenschaft ist Freiheit und Pflicht

Anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung Berlin hielt Prof. Dr. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie, Charité Berlin, am 27. Mai 2025 im Langenbeck-Virchow-Haus in Berlin Mitte eine vielbeachtete Rede über die Verantwortung von Wissenschaft, genauer von Wissenschaftler*innen. Wissenschaftsfreiheit meine nicht die Freiheit zu Schweigen und Sich-Herauszuhalten, sondern vielmehr eine Haltung, die sich der Meinungsmacht entgegenzustellen weiß. „Die wissenschaftliche Genauigkeit hilft der demokratischen Gesellschaft.“

Hier seine Rede im Wortlaut: 

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Wissenschaft ist Freiheit und Pflicht: Rede von Christian Drosten zum Festakt 100 Jahre DIW Berlin

„Ich möchte mich zunächst einmal sehr herzlich für die Einladung zu diesem besonderen und feierlichen Anlass bedanken – eine für unsere Gesellschaft bedeutende Institution der Wissenschaft blickt auf eine lange und wechselvolle Geschichte zurück. Ich hätte mich auch als zuhörender Teilnehmer über eine solche Einladung gefreut. Aber als Redner? Als Mediziner auf einer Veranstaltung eines Wirtschaftsforschungsinstituts? Man macht sich so seine Gedanken, wenn der Termin einer solchen Veranstaltung näher rückt. Warum die mich einladen? Vielleicht, weil unsere beiden Wissenschaften – die Medizin und die Ökonomie – nicht immer nur mit beiden Beinen in den exakten Mathematik- und Naturwissenschaften stehen. Beide haben etwas mit dem Menschen zu tun, mit Individuen, und – da wird es ganz besonders kompliziert – mit der Gesamtheit der Individuen, der Gesellschaft.

Was Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen in den Wirtschaftswissenschaften, sicherlich gut kennen, hat uns in der Medizin während der Pandemie ganz plötzlich überfallen: Wenn die Gesellschaft ein Problem hat und man so oder eben auch so mit der Sache umgehen kann – oder sogar muss –, dann wird es politisch. Und da leben wir im Moment in schwierigen Zeiten. Sicherlich hat die Erschütterung der Pandemie einige der heutigen Probleme mit ausgelöst, in die wir sehenden Auges zu rennen scheinen. Oder, um es genauer zu betrachten: Sie hat manchen Kräften die Gelegenheit geboten, ihre schon bestehende Erzählung noch breiter anzulegen – die Chance geliefert, eine verwirrte und verwundete Gesellschaft mit vordergründig plausiblen Auslegungen in die Irre zu führen.

Die Gesellschaft hat das Bewußtsein für Fakten verloren

Das „Schwarz-gegen-Weiß“ im öffentlichen Diskurs, die Liebe der Medien zum Konflikt und zur Personalisierung von vielschichtigen Sachthemen und – leider auch – allzu menschliche Bestrebungen nach Öffentlichkeit und Opportunität: All dies hat dazu geführt, dass den Menschen der Kopf raucht und die Gedanken schwirren. Wie es der Berliner Sozialwissenschaftler Michael Zürn Ende letzten Jahres in einem sehr empfehlenswerten Aufsatz in der FAZ ausdrückte: Unsere Gesellschaft verliert ihre Vernunft.

Ermöglicht wurde dies durch einen vollkommenen Verlust der Orientierung an Fakten, vermittelt durch Kandidaten in demokratischen Wahlen, die nach Gefälligkeit argumentieren und in ihren Argumenten so weit entfernt sind von jeglichem Realitätsbezug, dass man weder sagen kann, ob sie recht haben, noch, ob sie lügen. Was postfaktische Politiker von sich geben, ist noch nicht einmal falsch, aber dennoch keineswegs richtig. Es erreicht gar nicht die Schwelle eines harten Realitätsabgleichs in der nahen Zukunft, ihre Argumente lassen sich immer weiter entlang der Tagesnachrichten formen – wie ein biegsamer Werkstoff.

Zentral in dieser ganzen Katastrophe ist der Verlust des Gefühls für die Realität – was sein kann und was nicht, was man glauben kann und wo das Bauchgefühl Zweifel anmelden muss, auch ohne einschlägige Ausbildung. Was fehlt, ist das Faktische im Alltag, eine nicht in Frage zu stellende Kenntnis von Tatsachen und Naturgesetzen, ein Bewusstsein für die Statistik in Ausdrücken wie: „wahrscheinlich“ und „mit Sicherheit“, – genauso wie die Fähigkeit zum Kopfrechnen und die Orientierung in einer Stadt ohne elektronische Karten-Apps.

Es fehlt vielleicht die Unbequemlichkeit und die Anstrengung, die wir im Alltag selbst aufbringen müssen – ohne übersichtliche Menüs und künstlich intelligente Formulierungshilfen. Eine scheinbar direkte Verfügbarkeit von Informationen – freilich ohne Qualitätsüberprüfung – und die Verwechslung von Alltagsverstand mit methodischer Kompetenz werden immer zur Gewohnheit für diejenigen, die ihre Informationen zu großen Teilen aus sozialen Medien beziehen. All dies gipfelt in der Auffassung, dass jeder die Macht und die Kraft hat, zu eigenen Schlüssen über die Welt zu gelangen, ohne jeglichen Respekt vor Spezialisten – *do your own research*, und schlimmer noch, diese Schlüsse ohne journalistische Prinzipien zu verbreiten – *you are the media*.

Das eiskalte Händchen der Wissenschaft

Hierdurch verlieren wir nicht nur die Achtung vor Anderen, sondern auch vor den Institutionen des Staates und der Gesellschaft. Was der Gesellschaft fehlt, ist aber nicht „die Wissenschaft“. Sie ist präsent in unseren Autos und iPhones, sie ist das Aushängeschild von politischen Regionen – wie auch hier in Berlin – und sie hat uns, gerade vor kurzem erst, vor noch längeren Jahren der pandemischen Entbehrungen bewahrt. Wissenschaftliche Ergebnisse finden ihren Weg in die Verwertung, die Politik fördert Wissenschaft gerade dort, wo die Wirtschaft mit ihrer Verwertung gutes Geld verdient.

Was der Gesellschaft vielmehr fehlt, sind Wissenschaftler. Personen, die die Realität der Forschung kennengelernt haben – und mit ihr die Demut vor der Wirklichkeit. Der Vater eines sehr guten Freundes, an einer Universität tätig, brachte es für mich zu Beginn meiner eigenen Karriere einmal auf den Punkt, indem er sagte: 

„Die Wissenschaft hat ein eiskaltes Händchen.“ Er meinte damit: Egal, wie sehr man sich einen passenden oder gefälligen Ausgang eines Experiments oder einer Studie wünscht, egal, wie viel Arbeit man schon investiert hat – wenn man sich an irgendeiner Stelle irrt, wird sich das gnadenlos herausstellen, ohne Rücksicht auf menschliche Motivation oder politische Zielsetzungen.

Was er eigentlich sagte, war: „Die Wirklichkeit hat ein eiskaltes Händchen“, sie lässt sich nicht verhandeln. Gemeint ist diese Gewissheit, dass „richtig“ und „falsch“ nicht nur unterscheidbar sind, sondern sich auch unweigerlich herausstellen werden – die Erfahrung, dass man Irrtümer nicht nur für sich selbst erkennen muss, sondern – im Fall des Irrtums – eine Kurskorrektur, mit allen Konsequenzen, besser gleich als später einleitet. Die Bereitschaft zur Selbstkorrektur entsteht also nicht, weil man irgendwie unsicher ist oder besonders offen durch die Welt geht, sondern einfach aus Berufserfahrung, weil man gelernt hat, dass es angesichts von Naturphänomenen nichts nützt, ein Narrativ zu setzen oder ein anderes zu bekämpfen. Verwehren Sie sich dieser Haltung, gibt es für Wissenschaftler kein Mitleid. Was ihnen dann noch bleibt, ist die Chance zum Lernen, die die Wissenschaft immer anbietet – ebenfalls mit der ihr eigenen Kälte: Versuch es noch mal, wenn du die Kraft dazu hast. Ansonsten werden andere kommen und deine Forschungsfrage lösen, sie stehen schon bereit.

Welche Instanz ist heute höher als die Meinungsmacht?

Wo ist diese Erfahrung in unserer Gesellschaft heute zu spüren? Die Religion als handlungsleitende Instanz ist weitgehend verloren gegangen. Wo erkennen wir also den Respekt vor einer Instanz, die größer ist als die Meinungsmacht oder die Deutungshoheit? Ich will mich hier nicht dazu hinreißen lassen, zu sagen: „In der Wissenschaft“, denn so einfach ist es nicht.

Aber ein demokratischer Prozess des Für und Wider – ein Prozess der Irrtümer und Korrekturen, und nicht des Schwarz und Weiß, eine Diskussion, die unterscheidet zwischen schwer und leicht, Kosten und Nutzen, sofort oder später: Diese wissenschaftliche Genauigkeit hilft der demokratischen Gesellschaft. Und auch dies – die Genauigkeit – scheint uns leider über die Pandemie abhandengekommen zu sein. In Talkshows, manchen anderen Medien und zunehmend in politischen Kommissionen können wir heute live miterleben, wie das Wegfallen des pandemischen Handlungsdrucks im Nachhinein dazu genutzt wird, einen ganzen Abschnitt der jüngsten Geschichte umzudeuten und ganz verdreht noch einmal zu erzählen – so weit sind wir vom Faktischen inzwischen entfernt.

Als Wissenschaftler sind wir es (noch) nicht gewohnt, die Faktizität verteidigen zu müssen. Unser Studium und unsere Ausbildung lagen noch vor der postfaktischen Ära. Unseren Studierenden haben wir daher noch kaum Lösungen oder Rollenmodelle für diese neue Zeit anzubieten. Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang ein Geheimnis verraten, das viele nicht gern aussprechen: Wir werden als Wissenschaftler nicht darauf selektiert, uns sozial zu engagieren. Die Wissenschaftsfreiheit wird von vielen Wissenschaftlern auch als Freiheit begriffen, sich aus dem Tagesgeschäft herauszuhalten und besser nicht aufzufallen. Große Vordenker verhalten sich manchmal klein, wenn es um Altruismus, soziale Verantwortung oder Courage geht.

Die Treue zur Verfassung gehört zur Wissenschaft

Denn der Leistungsdruck im wissenschaftlichen System, die engen Flaschenhälse, durch die wir uns auf dem Karriereweg zwängen müssen, das System der Leistungsmessung – in einem Tätigkeitsbereich, der eigentlich von Kreativität lebt – all dies fördert weder Altruismus noch gesellschaftliches Engagement. Der Selektionsvorteil liegt bei denjenigen, die für ihr eigenes Fortkommen arbeiten. Politische Flexibilität und Opportunismus sind deshalb allgegenwärtig, auch in unseren Reihen. Das unheimliche Schweigen der Wissenschaft in den USA ist vielleicht nicht so unerklärlich, wie es aus der Ferne betrachtet scheint. Natürlich spielt Angst um die berufliche Existenz eine große Rolle, und das ist schrecklich, weil dies gerade die Jüngeren betrifft. Bei anderen wird es vielleicht nur die Angst um das eigene Fortkommen sein. Und bei den meisten spielt eben zusätzlich der Leistungsdruck eine Rolle. An ein paar entscheidenden Stellen bestimmt wohl auch das Senioritätsprinzip. In Leitungsfunktionen der Wissenschaft finden sich nun einmal Personen, die sich um ihre eigene Zukunft nicht sorgen müssen – verdientermaßen. Aber sie haben auch in ihrer Karriere den Gegenwind nicht gespürt, dem sich die jüngere Generation nach aller Wahrscheinlichkeit wird stellen müssen.

Die Gesellschaft hat Ihre Tätigkeit immer mit höchstem Respekt betrachtet. Niemand weiß derzeit, wie lange dieser Respekt noch bestehen bleibt. Eines deutet sich aber schon ganz klar an: Es wird lange dauern, bis sich Courage in der Breite der Wissenschaft von selbst einstellt. Denn die Gründe sind vielfältig und addieren sich auf. All dies stimmt nicht gerade optimistisch.

Die extremen Auswüchse der neuen Wissenschaftsfeindlichkeit lassen sich bereits jetzt in den USA beobachten. Hier in Berlin-Mitte, rund um die Luisenstraße, haben wir die alten Charité-Hörsäle, in denen die Porträts hängen – von den Kollegen, die in den dreißiger Jahren die Charité verlassen mussten. Auch wenn die Motive heute andere sind: Wir alle innerhalb der Wissenschaft sollten nicht glauben, dass sich solche Dinge in ihren Grundzügen nicht wiederholen können.

Artikel 5 des Grundgesetzes regelt die Freiheit von Forschung und Lehre. Dort heißt es in Absatz 3: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“

Freiheit heißt nicht, sich herauszuhalten

Beinhaltet der hier ausgedrückte Freiheitsgedanke wirklich auch das Recht, sich bei erneuten Angriffen auf die Demokratie – und den gesellschaftlichen Zusammenhalt – indifferent herauszuhalten und zu schweigen? Im selben Artikel des Grundgesetzes geht es um die Meinungsfreiheit: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Und weiter, im nächsten Absatz: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Ist es Zufall, dass der Schutz der Jugend direkt nach den schon mitantizipierten Gefahren der freien Meinungsverbreitung genannt ist?

Beginnt nicht die Täuschung ganzer Wähler*innengenerationen mit einem neu erfundenen, laxen Umgang mit der Wirklichkeit? Und – letzte Frage – wollen wir wirklich die Wissenschaft – als vielleicht letzte Bastion gegen die alternativen Fakten, die unsere Gesellschaft zerstören – in der Freiheit des Schweigens belassen? Ich plädiere heute für ein Nachdenken über den Grundsatz der Wissenschaftsfreiheit – und zwar nicht in erster Linie wegen ihrer Einschränkung! Die Freiheit der Wissenschaft muss auch Verpflichtungen mit sich bringen. 

Es braucht starke Wissenschaftsinstitutionen

Der direkte gesellschaftliche Nutzen der Wissenschaft liegt nicht nur in Wirtschaftsförderung und Ausbildung, wir brauchen die Wissenschaft als konstante Stimme in der demokratischen Debatte. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler werden dies nicht aus sich heraus leisten, gerade nicht jene, die ihre ganze Kraft in die Forschung stecken. Vielleicht ist das auch gut so, denn Einschätzungen müssen konsentiert und vorbereitet werden. Innerhalb der Wissenschaft gibt es Zuständigkeiten und Kompetenzen, die ausgelotet und geklärt gehören, bevor man spricht.

Auch hierfür hat die Wissenschaft eine Lösung – in ihren teils jahrhundertealten und doch modernen Institutionen. Starke wissenschaftliche Institutionen – dazu gehören Forschungseinrichtungen wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung oder die Charité, ebenso wie Akademien oder Fachorganisationen – sie sind eine Grundvoraussetzung für das Auftreten der seriösen Wissenschaft als gesellschaftliche Stimme. Haben wir sie nicht, geraten wir unweigerlich in den Strudel des öffentlichen Meinungsmarktes. Es ist daher die Aufgabe der Politik, die Institutionen der Wissenschaft zu stärken – in ihrem eigenen Interesse und für die Überlebensfähigkeit unserer demokratischen Gesellschaften. Hierzu reicht heute nicht mehr allein eine auskömmliche Finanzierung. Die Wissenschaft braucht Schutz und Anerkennung durch politische Leitfiguren, um Rückzugsreflexe in schweren Zeiten zu verhindern. Und auch die Wissenschaft muss sich selbstkritisch ansehen. Wir müssen dringend – auch und gerade in den Institutionen der Wissenschaft – darüber reden, welche Verpflichtungen die Gesellschaft uns mit der Wissenschaftsfreiheit auferlegt." 

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