Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs als wichtiger Akteur für die wirtschaftliche Integration Europas etabliert. Mit fundierten Studien, klaren Empfehlungen und kritischem Blick hat das Institut die Entwicklung der Europäischen Union (EU) begleitet. Von der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) über die Einführung des Euro bis hin zu Reformvorschlägen nach der Finanzkrise – das DIW Berlin bleibt ein engagierter Verfechter der europäischen Idee und liefert fundierte Beiträge zur Weiterentwicklung der EU.
Ferdinand Friedensburg, DIW-Präsident von 1945 bis 1968, und Mitglied des Europäischen Parlaments, setzte mit seiner Studie "Probleme der europäischen Kohlenversorgung" (1948)Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 2 / 1948, S. 81-95, Ferdinand Friedensburg: https://www.diw.de/de/diw_01.c.510224.de/publikationen/vierteljahrshefte/1948_02_1/probleme_der_europaeischen_kohlenversorgung.html einen Meilenstein für die Europaforschung am Institut. Er analysierte die Herausforderungen der Energieversorgung im Nachkriegseuropa und betonte dabei den Mangel an Arbeitskräften und Maschinen sowie die verschlechterte Kohlequalität. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Alliierten wird als entscheidend für die Wiederherstellung der Kohlenversorgung angesehen. Friedensburg hoffte, dass sich die Situation bald verbessern würde. Zum Beispiel durch technologische Fortschritte und die Wiederherstellung der Belegschaften.
Diese Erkenntnisse bereiteten den Weg für die spätere Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, an der Friedensburg auch selbst aktiv mitarbeitete: Von 1954 bis 1964 war er Mitglied der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die später das Europäische Parlament wurde. Zudem entstand nicht zuletzt auf Initiative Friedensburgs 1957 ein Netzwerk europäischer Konjunkturforschungsinstitute: die »Association d’Instituts Européens de Conjoncture Économique«.
Die Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952, einschließlich der Gebiete von Frankreich), mit der alten Flagge in der oberen rechten Ecke (verwendet bis 1973).
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In den 1950er Jahren widmete sich das DIW Berlin verstärkt Fragen der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Eine zentrale Figur war Ingeborg Köhler-Rieckenberg, langjährige Mitarbeiterin und spätere Abteilungsleiterin am DIW Berlin. Ihre Studie "Betrachtungen zu dem Problem der europäischen Integration" (1959)Vierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 4 / 1959, S. 423-426, Ingeborg Köhler-Rieckenberg: https://www.diw.de/de/diw_01.c.509331.de/publikationen/vierteljahrshefte/1959_04_4/betrachtungen_zu_dem_problem_der_europaeischen_integration.html verglich die Ziele der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit denen der kleinen Freihandelszone (EFTA). Während die EWG einen "Gemeinsamen Markt" anstrebte, der freien Waren-, Kapital- und Arbeitsverkehr sowie eine koordinierte Wirtschafts- und Währungspolitik umfasst, zielte die Freihandelszone lediglich auf einen zoll- und kontingentfreien Warenaustausch ab.
Köhler-Rieckenberg betonte die positiven wirtschaftlichen Auswirkungen der Integrationsbestrebungen. Sie argumentierte gegen die Befürchtungen eines Handelskriegs zwischen EWG und der kleinen Freihandelszone, da beide Seiten aus wirtschaftlichen Gründen an niedrigen Zöllen interessiert seien. Sie analysierte die Herausforderungen der neu gegründeten EWG und lieferte wichtige Erkenntnisse für deren Weiterentwicklung.
Aus der EWG, Euratom, EGKS wurde die Europäische Gemeinschaft und schlussendlich die Europäischen Union. Die Euro-Einführung markierte einen Meilenstein der europäischen Integration – und auch für das DIW Berlin. Hier leistete Karin Müller-Krumholz 1998 bedeutende Arbeit. Sie hinterfragte die Berechnungen des Statistischen Bundesamts, das ein Staatsdefizit von 2,7 Prozent des deutschen BIP für 1997 gemeldet hatte – knapp unter dem Maastricht-Kriterium von 3 Prozent. Ihre Untersuchungen ergaben ein möglicherweise höheres Defizit.DIW Wochenbericht 10 / 1998, S. 189-191: https://www.diw.de/de/diw_01.c.444894.de/publikationen/wochenberichte/1998_10_10/zur_diskussion_ueber_das_finanzierungsdefizit_des_staates_im_jahre_1997.html
Müller-Krumholz stellte in einem Interview klar: „Es hat sich herausgestellt, dass das [statistische] Bundesamt an Zahlen gedreht hatte, an denen es nicht hätte drehen dürfen.” Die Politiker von CDU und CSU, namentlich Wolfgang Schäuble, Theo Waigel und Fraktionssprecher Walter Bajohr, waren empört. Wolfgang Schäuble sprach von einem „Skandal“, einer „gezielte[n] Sauerei“. Walter Bajohr forderte sogar die Fördermittel des DIW zu kürzen.https://taz.de/!1355737/ Müller-Krumholz kommentierte dazu im Interview 2018: „Unser Institut war immer für die Einführung des Euro, also da hätten wir es ja um unsere eigene Idee gebracht.“ Trotz des kontroversen Falls unterstrich das DIW, dass die Stabilität des Euros von langfristigen Institutionen und Regeln abhängt, nicht von einer einzelnen Defizitzahl. Die Wissenschaftlerin ging 1999 in den Ruhestand, hinterließ aber ein Vermächtnis für kritische und unabhängige Forschung zu europäischen Themen.
Euro-Münzen und -Scheine.
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Die Einführung des Euros und die deutsche Wiedervereinigung boten dem DIW wichtige Vergleichsgrundlagen. Eine StudieVierteljahrshefte zur Wirtschaftsforschung 2 / 2000, S. 163-177, Gustav A. Horn, Ulrich Fritsche, Wolfgang Scheremet: https://www.diw.de/de/diw_01.c.444010.de/publikationen/vierteljahrshefte/2000_02_3/die_doppelte_waehrungsunion__deutschland_und_europa_im_wirts___ichen_integrationsprozess___ein_rueckblick_und_ein_vergleich.html von Horn, Fritsche und Scheremet aus der Jahrtausendwende analysierte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der deutschen und der europäischen Währungsunion. Sie zeigte, dass institutionelle Rahmenbedingungen entscheidend sind, um wirtschaftliche Unterschiede auszugleichen.
Besonders die Theorie optimaler Währungsräume wurde kritisch beleuchtet. Die Wissenschaftler argumentierten, dass sich eine Währungsunion durch gezielte Reformen selbst optimieren könne. Ein theoretisches Modell untersuchte, unter welchen Bedingungen ein Land mit niedrigerem Pro-Kopf-Einkommen in einer Währungsunion aufholen kann. Die Studie betonte die Bedeutung von Einkommensbildung und Vermögensmärkten für eine nachholende Entwicklung.
Die globale Finanzkrise stellte die Europäische Union vor nie da gewesene Herausforderungen. Mit der durch die globale Finanzkrise einsetzenden Unsicherheit auf den internationalen Kapitalmärkten gingen die internationalen Finanzzuflüsse zurück. In der Konsequenz war seit Beginn der Krise die Investitionstätigkeit im gesamten Euroraum niedrig. Unter Marcel Fratzscher, der 2013 die Leitung des DIW übernahm, rückte das Thema Investitionen in den Fokus. Die StudieDIW Wochenbericht 27 / 2014, S. 631-635, Ferdinand Fichtner, Marcel Fratzscher, Martin Gornig: https://www.diw.de/de/diw_01.c.469126.de/publikationen/wochenberichte/2014_27_1/eine_investitionsagenda_fuer_europa.html „Eine Investitionsagenda für Europa“ empfahl gezielte Maßnahmen, um aus dem Teufelskreis von Schulden-, Banken-, Wirtschafts- und Vertrauenskrise auszubrechen. Besonders die Stärkung privater Investitionen stand im Mittelpunkt.
Auch die Rolle kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) wurde untersucht. Diese, als Rückgrat der europäischen Wirtschaft, litten besonders stark unter der Krise. Eine DIW-Studie von 2014 betonte daher die Notwendigkeit, Rahmenbedingungen für KMU zu verbessern und gezielt zu fördern.
Im Jahr 2019 präsentierten Marcel Fratzscher und Alexander Kriwoluzky ein umfassendes ReformpaketDIW Wochenbericht 18 / 2019, S. 300-301, Marcel Fratzscher, Alexander Kriwoluzky: https://www.diw.de/de/diw_01.c.620361.de/publikationen/wochenberichte/2019_18_1/europa_muss_sich_auf_seine_staerken_konzentrieren__editorial.html für den Euroraum. Sie schlugen vor, die Neuverschuldungsregeln durch eine nominale Ausgabenregel zu ersetzen, synthetische Euro-Anleihen zu schaffen und öffentliche Investitionen besser zu schützen. Zentral war die Stärkung europäischer Fiskalinstitutionen, um den Euroraum krisenfester zu machen.
Die Flagge der Europäischen Union.
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In jüngster Zeit widmet sich das DIW Berlin auch der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Eine StudieDIW Wochenbericht 42 / 2024, S. 657-663, Gökhan Ider, Alexander Kriwoluzky, Frederik Kurcz, Ben Schumann: https://www.diw.de/de/diw_01.c.917860.de/publikationen/wochenberichte/2024_42_3/geldpolitik_in_zeiten_der_energiepreiskrise__ezb_haette_inflation_fruehzeitiger_eindaemmen_koennen.html aus dem Jahr 2024 untersuchte deren Balanceakt zwischen Inflationsbekämpfung und Konjunkturstabilisierung während der Energiepreiskrise seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Die EZB sah sich einem Zielkonflikt zwischen Inflationsbekämpfung und Konjunkturstabilisierung gegenüber. Die Strategie niedriger Zinsen verbesserte zwar die Konjunktur, eine frühere Zinserhöhung hätte die Energienachfrage jedoch gedämpft und den Euro aufgewertet, was die Energiepreise schneller gesenkt hätte.
Abseits der Forschung nimmt das DIW auch aktiv am öffentlichen Diskurs teil. Mit der Veranstaltungsreihe „DIW Europe Lecture“ bietet es Entscheidungsträger*innen und Wissenschaftler*innen eine Plattform, um die Zukunft Europas zu diskutieren. Christine Lagarde plädierte in der DIW Europe Lecture vom 21. März 2018 (damals noch in der Rolle als IWF-Direktorin) für eine Stärkung der Eurozone durch Reformen, Integration und Eigenverantwortung und hob dabei die Bedeutung der Kommunikation und des Optimismus hervor.
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DIW Europe Lecture with Christine Lagarde: Strengthening the Euro Area Architecture: 4th DIW Europe Lecture
Im November 2018 sprach auch Margrethe Vestager (EU-Kommissarin für Wettbewerb) im Rahmen der DIW Europe Lecture über die Zukunft der EU.
"Diversity is part of resilience. It's a way to get strong, but it's also parts of the secret to innovation. Because the success of our industry and therefore the success of building jobs and enabling people to provide for the family, that success lies with innovation."
Sie unterstrich die Bedeutung von Vielfalt für die Widerstandsfähigkeit, Innovationskraft und letztendlich den Erfolg der europäischen Industrie und ihrer Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen und den Wohlstand der Bürger zu sichern.
Mit seiner interdisziplinären Ausrichtung und dem Fokus auf praxisrelevante Forschung ist das Institut sehr gut aufgestellt, um die komplexen Herausforderungen der europäischen Integration zu analysieren und Lösungsansätze zu entwickeln. Die Europaforschung am DIW Berlin steht damit in einer langen Tradition – ein Engagement, das angesichts aktueller Herausforderungen wichtiger denn je ist.
Autor: Frederik Schulz-Greve