In mehr als 300 Studien hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung seit der Gründung 1925 „seine“ Stadt Berlin untersucht, begleitet und analysiert. Nach dem Krieg sorgten Wissenschaftler dafür, dass Berlin Teil des Marshallplans wurde, während der Blockade berechneten sie die Ladungsmengen der Rosinenbomber, während der deutschen Teilung gingen sie auf Ost-Seite im Konsummarkt auf Datenjagd und beobachteten die Wirtschaftsentwicklung in der DDR so eng wie kaum jemand anderes. Später begleiteten sie erst einen Immobilienboom, dann die Wohnungsnot, beobachteten die Kreativwirtschaft und verglichen Berlin mit anderen Hauptstädten der Welt. Der Standort Berlin und die Berlin-Forschung des Instituts haben sich über die Jahrzehnte als äußerst wertvoll erwiesen, nicht nur für Institut und Stadt selbst, sondern auch für die nationale und internationale Politik.
Abendliche Skyline von Berlin mit Blick auf die Spree, die Oberbaumbrücke und den Fernsehturm
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In der Nachkriegszeit war Berlin als geteilte Stadt ein einzigartiges Forschungsfeld. Das galt seit der Aufteilung in die Besatzungszonen und ganz besonders seit Beginn des Kalten Krieges und der Berlin-Blockade ab Juni 1948. Forscher*innen des DIW ermittelten den Mindesttransportbedarf für die eingeschlossenen Westsektoren. Ferdinand Grünig, ein Mitarbeiter des DIW, errechnete, dass die Flugzeuge täglich 6000 Tonnen oder 2,85 Kilogramm pro Einwohner*in nach Berlin transportieren können sollten, wovon 650 Gramm für Nahrungsmittel pro Person und Tag ausreichen sollten.
Ein "Rosinenbomber", aufgenommen am 20. Juni 2019 auf dem Flugplatz in Tannheim.
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1949 wurde am DIW ein spezielles Berlin-Referat gegründet, das die stadtspezifische Forschung institutionalisierte. Unter der Leitung von Rolf Krengel wurden zahlreiche Studien zur geteilten Stadt veröffentlicht. Eine Studie aus dem Jahr 1960WB27/1960: Die Wirtschafts- und Finanzstruktur Ostberlins zeigte, dass trotz 15-jähriger Trennung und unterschiedlicher Entwicklungen die wirtschaftlichen und finanziellen Strukturen beider Berliner Stadtteile ähnlich blieben. Das Berlin-Referat wurde nach der Wende in Berlin-Brandenburg umbenannt und ging später in anderen Abteilungen des Instituts auf.Rolf Krengel (1986): a.a.O. Die besondere Lage der Stadt ermöglichte den Forscher*innen auch Zugang zu Daten, die anderen verwehrt blieben: Regelmäßig gingen Mitarbeiter*innen der DDR-Abteilung in den Osten auf Erkundungstour, werteten Ostzeitungen aus und betrieben Preisforschung in Ostberliner Konsum-Märkten.
Berlin und die DDR waren DIW-Themen und eine Kernexpertise des Instituts. Mit dem Mauerfall floss das Wissen in den Wiedervereinigungsprozess und „gefühlt das ganze DIW arbeitete an der Anbahnung der Wirtschafts- und Sozialunion und wirkte stark darauf ein, dass das Soziale dabei nicht hintenüberfiel“. So berichtet es Martin Gornig, heute Forschungsdirektor in der Abteilung Unternehmen und Märkte, der den Prozess damals als Wissenschaftler und DIW-Neuling erlebt. „Als ich gesehen habe, was man hier mit Expertise gestalten konnte, war mir klar, hier will ich bleiben“, berichtet Gornig 35 Jahre nach Dienstantritt am Institut .
Das Brandenburger Tor, hier angestrahlt beim Berliner Festival of Lights 2019, mit Aufschriften und Forderungen der friedlichen Revolution 1989.
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Während die einen Wissenschaftler*innen Expertise in den Einigungsprozess einbrachten, strömten die anderen aus, um Daten zu sammeln. Schon kurz nach dem Mauerfall fingen die Mitarbeiter*innen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) damit an, die neuen Bundesbürger*innen zu befragen und einen einzigartigen Datenschatz aufzubauen. Sie trafen dabei auf eine riesige Begeisterung und Offenheit der Befragten. So berichtete es der 2024 leider verstorbene Gert G. Wagner, ehemaliger Leiter des SOEP.
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Gert G. Wagner zu der ersten SOEP Umfrage in der DDR
Nach 1990 bot Berlin ein faszinierendes Forschungsfeld für die Analyse des Zusammenwachsens zweier vormals getrennter Wirtschaftssysteme. Eine Studie des DIW aus dem Jahr 1994Wochenbericht 10/1994: Noch immer beträchtlicher Einkommensabstand zwischen West-Berlin und Ost-Berlin: verfügbares Einkommen der Berliner Privathaushalte im Jahre 1992 zeigte signifikante Einkommensunterschiede zwischen Ost- und West-Berlin. Westberliner Haushalte verfügten im Durchschnitt über 4.600 DM monatlich, Ostberliner über 3.300 DM. Die Pro-Kopf-Einkommen lagen bei 2.500 DM (West) und 1.600 DM (Ost). Seitdem hat das DIW Berlin das Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland beständig mit Studien begleitet und analysiert.
Darüber hinaus dient Berlin als Modellfall für Herausforderungen des urbanen Wohnungsmarktes. Seit Jahrzehnten untersucht das DIW den Wohnraummangel in der Stadt. In den 1970er Jahren stellte eine StudieWochenbericht 20/1975: Wohnungsversorgung und Wohnungsbedarf in West-Berlinfest, dass trotz einer Million vorhandener Wohnungen der Wohnraumbedarf in West-Berlin nicht gedeckt werden konnte. In den 1990er JahrenWochenbericht 4/1994: Sozialer Wohnungsbau in Berlin im Spannungsfeld von großer Nachfrage und notwendigen Reformen nahm der Druck auf den Berliner Wohnungsmarkt durch den Bevölkerungszuwachs nach der Wiedervereinigung zu. Das DIW prognostizierte, dass zur Deckung des steigenden Bedarfs bis 2000 eine erhebliche Aufstockung des Wohnungsbestands nötig sei.
In den letzten Jahren rückte die Preisentwicklung auf dem Berliner Wohnungsmarkt in den Fokus der DIW-Forschung. Eine Studie aus dem Jahr 2012Wochenbericht 16/2012: Instrument zur Messung der Preisentwicklung auf dem Wohnungsmarkt : das Beispiel Berlin zeigte signifikante Preissteigerungen bei Mieten und Eigentumswohnungen. Das DIW identifizierte, dass Plattformen wie AirbnbWochenbericht 7/2021: Durch Airbnb-Vermietungen steigen in Berlin die Mieten die Marktlage zusätzlich verschärften.
© DIW Berlin
Die Forscher*innen des DIW betrachteten im Jahr 2021Wochenbericht 8/2021: Die unmittelbaren Auswirkungen des Berliner Mietendeckels: Wohnungen günstiger, aber schwieriger zu finden eine Besonderheit Berlins: Den Mietendeckel. Die Forschung zeigte, dass trotz eines Rückgangs der Mieten für regulierte Wohnungen die Anzahl der verfügbaren Mietwohnungen sank.
Quelle: Empirica Systeme; eigene Berechnungen.
„Arm aber sexy“, beschrieb Bürgermeister Klaus Wowereit die Stadt kurz nach der Jahrtausendwende. Die Kreativwirtschaft – also Medien, Kommunikation und Kultur – boomten im ganzen Land, nirgends aber so wie in Berlin, beleuchtete das DIW Berlin.Wochenbericht 29/2016: Berlin: Hauptstadt der Gründungen, aber (noch) nicht der schnell wachsenden Unternehmen Und schon hier zeigte sich: In der Hauptstadt sind es vor allem Selbstständige und freie Mitarbeiter*innen, die den Boom tragen. Die Entwicklung Berlins zur "Gründungshauptstadt" Deutschlands bot wertvolle Einblicke in urbane Innovationsprozesse. Eine StudieWochenbericht 47/2018: Anzeichen für eine Reurbanisierung der Industrie des DIW zeigte, dass sich Berlin von einer Stadt mit unterdurchschnittlicher Selbständigenquote kurz nach der Wiedervereinigung zu einer Gründungsmetropole entwickelt hat. Mit einer Selbständigenquote von über 16 Prozent im Jahr 2014 lag Berlin deutlich über dem Bundesdurchschnitt von etwa 10 Prozent. Besonders auffällig ist der hohe Anteil ausländischer Gründer*innen - fast jedes zweite Unternehmen wurde von Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit gegründet. Zwei Jahre später zeigte das Institut: Es wird gegründet, aber noch wachsen die Startups langsam.Wochenbericht 31/2007: Berlin als Standort der Kreativwirtschaft immer bedeutender und Rasantes Wachstum der Zahl kreativ Tätiger in Berlin Bemerkenswert war auch der Anteil Berlins an allen deutschen Industriegründungen in Höhe von 6,9 Prozent (2018). Im Vergleich dazu nahm Berlin 2018 nur 1,9 Prozent an der gesamtdeutschen Industriebeschäftigung ein. Die Gründungsintensität in Berlin war 3,7-mal höher als im Rest Deutschlands.Wochenbericht 29/2016: Berlin Hauptstadt der Gründungen aber (noch) nicht der schnell wachsenden Unternehmen
Als Hauptstadt im Zentrum Europas misst sich Berlin stets auch mit den anderen Global Cities des Kontinents. Vom DIW wird Berlin deshalb als Fallstudie genutzt, um Erkenntnisse für andere deutsche Großstädte und internationale Metropolen zu gewinnen. Eine umfassende Studie des DIW aus dem Jahr 2019DIW Politikberatung Kompakt 144: Berlin auf dem Weg ins Jahr 2030 verglich Berlin mit 15 anderen europäischen Hauptstädten anhand von 35 Indikatoren über die letzten 10-15 Jahre. Die Studie untersuchte die Fortschritte der Hauptstadt in Bezug auf die im Stadtentwicklungskonzept 2030 definierten Zieldimensionen Wirtschaftskraft, Lebensqualität und Solidarität. Positiv hervorgehoben wurden das starke Bevölkerungswachstum seit Mitte der 2000er Jahre, die deutliche Zunahme der Erwerbstätigkeit, das überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum im Vergleich zum Bundesdurchschnitt und eine erfolgreiche Entwicklung in Bereichen wie Digitalisierung, Kreativwirtschaft und Tourismus.
Herausforderungen blieben etwa die unter dem Bundesdurchschnitt liegende Arbeitsproduktivität, die hohe Arbeitslosigkeit im Vergleich zu anderen Großstädten, das niedrige Pro-Kopf-Einkommen, infrastrukturelle Defizite (besonders im Verkehrsbereich) sowie die Wohnungsknappheit und steigende Mieten.
Durch den Vergleich mit anderen europäischen Hauptstädten lassen sich Best Practices identifizieren, die als Handlungsoptionen für die Stadtentwicklung und -politik dienen können. Die Berlin-Forschung am DIW hat eine Strahlkraft weit über die Stadtgrenzen hinaus und trägt wesentlich zum Verständnis urbaner Entwicklungen und wirtschaftspolitischer Herausforderungen bei. Diese Erkenntnisse sind nicht nur für Berlin von Bedeutung, sondern liefern auch wichtige Einsichten für andere deutsche Großstädte und internationale Metropolen.
Berlin als Forschungsgrundlage, ermöglichte es den Wissenschaftler*innen des DIW über die Jahre zahlreiche Empfehlungen zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation auszuarbeiten. Dazu gehörten unter anderem Vorschläge zur Reform der Fördermittelverwendung, um den Wohnungsbau effizienter zu gestalten und Versorgungslücken zu schließen. Auch zum kontroversen Thema der Enteignungen großer Wohnungsunternehmen hat sich das DIW geäußert und alternative Lösungsansätze wie eine MietensteuerEine Basisvariante schlägt eine einheitliche proportionale Mietensteuer von 3% auf Nettokaltmieten in Berlin vor, die von Immobilienbesitzer*innen zu zahlen wäre und nicht in die Nebenkosten weitergegeben werden soll. Als Alternative wird eine progressive Mietensteuer diskutiert, die Mieten bis 110% der ortsüblichen Vergleichsmiete steuerfrei lässt und darüberhinausgehende Mietanteile progressiv besteuert. Die progressive Variante würde Anreize gegen überzogene Mietforderungen schaffen, ist aber in der Umsetzung aufwendiger, da die ortsübliche Vergleichsmiete ermittelt werden muss. Basierend auf Daten des Mikrozensus 2018 und des Berliner Mietspiegels 2019 wird geschätzt, dass eine progressive Mietensteuer in Berlin rund 200 Millionen Euro pro Jahr einbringen könnte (DIW aktuell: Eine Mietensteuer in Berlin könnte 100 000 Wohnungen bezahlbar machen).
vorgeschlagen. Eine progressive Mietensteuer, die Mieten bis 110% der ortsüblichen Vergleichsmiete steuerfrei lässt und darüberhinausgehende Mietanteile progressiv besteuert, könnte der Stadt rund 200 Millionen Euro im Jahr einbringen. Die Forschung des DIW zu Berlin hat somit nicht nur akademische Relevanz, sondern bietet auch konkrete Handlungsempfehlungen für politische Entscheidungsträger*innen.
Berlin spielt und spielte für die Forschung am DIW eine zentrale Rolle. Die Stadt dient als lebendiges Labor für wirtschaftliche und soziale Entwicklungen, von der Nachkriegszeit über die Wiedervereinigung bis hin zu aktuellen Herausforderungen wie Wohnraumknappheit und Digitalisierung. Die Erkenntnisse aus der Berlin-Forschung des DIW tragen nicht nur zum besseren Verständnis der Hauptstadt bei, sondern liefern auch wichtige Impulse für die Entwicklung anderer Metropolen in Deutschland und Europa.
Autor: Frederik Schulz-Greve, PR-Volontär in der Kommunikationsabteilung