DIW Wochenbericht 45 / 2019, S. 827-838
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„Das Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse sollte sich in Zukunft stärker auf die regionale Vielfalt in allen Landesteilen beziehen.“ Peter Krause, Studienautor
Seit der Wiedervereinigung ist die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland ein wichtiges politisches Ziel. Dieser Bericht vergleicht anhand von Daten der amtlichen Statistik und des Sozio-oekonomischen Panels die Entwicklungen der Lebensbedingungen in beiden Landesteilen. Dabei ergibt sich ein gemischtes Bild. Bei der Schichtung der Einkommen und der Lebenszufriedenheit hat der Osten stark aufgeholt. Auch sozio-demographische Angleichungen sind zu erkennen, etwa beim steigenden Kinderanteil und den inzwischen ausgeglichenen Binnenwanderungen. In beiden Landesteilen sind die Einkommensungleichheit und die Armutsrisikoquoten gestiegen, die Quoten bei niedrigen Erwerbseinkommen und Niedriglohn haben sich erhöht, und der Anteil niedrig Qualifizierter an den Beschäftigten ist gesunken. Angleichungsdefizite zeigen sich für Ostdeutschland insbesondere bei der nach wie vor geringeren Wirtschaftskraft, einer geringeren Zunahme an hochqualifizierten Beschäftigten und höheren Anteilen von Beschäftigten mit Niedriglohn und geringen Erwerbseinkommen sowie höheren Armutsrisikoquoten. Anhaltende Ost-West-Unterschiede dürften auch durch den deutlich stärker ländlich geprägten Raum Ostdeutschlands verursacht sein. Zudem weisen die deutlich geringeren Anteile von Migranten auf weiter anhaltende regionsspezifische Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland hin.
Die zurückliegenden 30 Jahre nach dem Fall der Mauer waren für die Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland durch Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen geprägt. Die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist Ziel der deutschen PolitikDie Bundesregierung hat am 18. Juli 2018 die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ mit dem Ziel eingesetzt, mit Blick auf unterschiedliche regionale Entwicklungen und den demografischen Wandel in Deutschland Handlungsempfehlungen bis zum Ende der 19. Legislaturperiode zu erarbeiten. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) (Hrsg.) (2019): Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2019. Berlin (online verfügbar; abgerufen am 30. Oktober 2019. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt).. und wurde in Ostdeutschland durch umfassende Infrastruktur- und Transferleistungen gefördert. Für die ostdeutsche Bevölkerung änderten sich mit der Wiedervereinigung die politischen und wirtschaftlichen Strukturen grundlegend. Das institutionelle Gefüge der ehemaligen Bundesrepublik wurde auf das Beitrittsgebiet übertragen, und durch die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurde das System der sozialen MarktwirtschaftDie Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion trat bereits am 1. Juli 1990 in Kraft – noch vor der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. in Ostdeutschland eingeführt und umgesetzt.
Dieser Bericht vergleicht die Entwicklungen der Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland in fünf Bereichen seit Beginn der 1990er JahreDer Bericht setzt damit frühere Berichterstattungen zur Ost-West-Angleichung fort. Vgl. Peter Krause und Ilona Ostner (Hrsg.) (2010): Leben in Ost- und Westdeutschland. Eine sozialwissenschaftliche Bilanz der deutschen Einheit 1990–2010. Frankfurt a.M.; sowie Peter Krause et al. (2010): 20 Jahre Wiedervereinigung: Wie weit Ost- und Westdeutschland zusammengerückt sind. DIW Wochenbericht Nr. 44, 2–12 (online verfügbar).: (1) gesamtwirtschaftliche Entwicklung, (2) Regionalstruktur, Sozio-Demografie und Migration, (3) Arbeitsmarkt, Erwerbseinkommen und Löhne, (4) Haushaltseinkommen und Ungleichheit sowie (5) Lebenszufriedenheit und wirtschaftliche Sorgen.Der vorliegende Bericht legt den Schwerpunkt auf die Verteilung von Lebensbedingungen in der Bevölkerung in Ost- und Westdeutschland. Andere Publikationen fokussieren stärker auf wirtschaftliche Entwicklungen oder aggregierte Indikatoren; vgl. Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) (Hrsg.) (2019): Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall. Halle (Saale) (online verfügbar); BMWi (2019), a.a.O.; Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.) (2015): So geht Einheit. Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist (online verfügbar); sowie Joachim Ragnitz et al. (2019): Der Graben zwischen Ost und West – welche Politik hilft gegen Ungleichheit? ifo Schnelldienst 16 (online verfügbar). Dabei werden gemeinsame Entwicklungen und Angleichungsfortschritte auf Grundlage von Daten der amtlichen StatistikZur Beschreibung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung werden Daten des Arbeitskreises Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder sowie der Bundesagentur für Arbeit verwendet. und von personenbezogenen Verteilungsinformationen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)Das SOEP ist eine repräsentative jährliche Wiederholungsbefragung privater Haushalte und Personen, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird: vgl. Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239 (2), 345–360; Marco Giesselmann et al. (2019): The Individual in Context(s): Research Potentials of the Socio-Economic Panel Study (SOEP) in Sociology. European Sociological Review, 35 (5), 738–755. Den Auswertungen liegt die Daten-Version SOEPv34 zugrunde. ermittelt.Sofern nicht anders ausgewiesen, beziehen sich die Ost-West-Abgrenzungen im SOEP auf den aktuellen Wohnort im jeweiligen Bundesland. Berlin wird dabei anhand von Postleitzahlbezirken in West- und Ost-Berlin (weiterhin) getrennt zugewiesen.
Der Zeitraum seit dem Mauerfall kann in drei Entwicklungsphasen mit unterschiedlichen Angleichungsschwerpunkten zusammengefasst werden: eine erste Phase der institutionellen und sozialpolitischen Angleichung (1990–1994), eine zweite Phase wechselhafter Entwicklungen auf dem gemeinsamen Arbeitsmarkt (1995–2009), sowie eine dritte Phase der wirtschaftlichen und sozialen Angleichung (seit 2010).
Mit der Wiedervereinigung erfolgte in Ostdeutschland die Privatisierung der zuvor staatlich geleiteten Wirtschaftsunternehmen durch die Treuhand. Der Treuhand unterstanden zeitweise 12534 Unternehmen. Die Zahl der in Treuhand-Betrieben Beschäftigten sank zwischen 1990 und 1994 von 4 Millionen auf 1,5 Millionen. Bis 1994 waren mutmaßlich bereits die meisten Ostprodukte aus den Lebensmittelregalen verschwunden. Vgl. Phillip Ther (2019): Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation. Suhrkamp, 80 ff.; Marcus Böick (2018): Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung 1990–1994. Göttingen. Die neuen Unternehmen waren den Anforderungen des westlichen Marktes vielfach nicht gewachsen, was zu einem Abbau der vormals hohen Erwerbsquoten sowie einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit führte. Zugleich stiegen mit dem Systemwechsel die Produktivität der verbliebenen Betriebe und die ostdeutsche Wirtschaftsleistung (BIP) stark an (Abbildung 1 oben).
Bereits in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre verlangsamten sich die Angleichungsfortschritte. In dieser Zeit fiel die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands im europäischen Vergleich zurück.Deutschland galt wirtschaftlich als der „kranke Mann Europas“, vgl. Ther (2019), a.a.O., 73; sowie The Economist (1999): The sick man of the euro. Ausgabe vom 3. Juni 1999 (online verfügbar). Die ostdeutsche Bevölkerung wurde von einer schwachen wirtschaftlichen Entwicklung, die bis Mitte der 2000er Jahre anhielt, überproportional betroffen. Die Arbeitslosenquote stieg in Ostdeutschland nach einem bereits deutlichen Anstieg zu Beginn der 1990er Jahre weiter an, bis zu einem Höchststand von 20,6 Prozent im Jahr 2005 (Abbildung 1 unten). Sie lag damit nahezu doppelt so hoch wie in Westdeutschland (11,0 Prozent). Danach ist die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland kontinuierlich zurückgegangen und die ostdeutsche Wirtschaftsleistung und Produktivität haben sich weiter erhöht.
Die globale Finanzkrise führte Ende des Jahres 2008 zu einem schockartigen Einbruch der gesamtdeutschen Wirtschaft, die aber durch massive sozial-, fiskal- und wirtschaftspolitische MaßnahmenVgl. Thomas Bahle und Peter Krause (2017): Child Poverty during the Recession in Germany. In: Bea Cantillon et al. (Hrsg): Children of Austerity. Impact of the Great Recession on Child Poverty in Rich Countries. Unicef. Oxford, 56–93. in Ost- und Westdeutschland begrenzt und relativ zeitnah weithin wieder ausgeglichen werden konnte.
Seit 2010 hat sich die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Ost- und Westdeutschland weiter kontinuierlich verbessert. Die Arbeitslosenquoten verringerten sich nochmals und die Wirtschaftsleistung stieg weiter an. Im Jahr 2018 betrug die Produktivität in Ostdeutschland, gemessen als Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigem, rund 83 Prozent des westdeutschen Vergleichswertes.Die anhaltenden Produktivitätsunterschiede gegenüber Westdeutschland gehen einher mit geringeren Betriebsgrößen und einem geringeren Anteil an (großen) Firmenzentralen. Produktivitätsunterschiede bestehen aber auch bei kleineren Betriebsgrößen und sind in ländlichen Regionen kleiner, vgl. IWH (2019), a.a.O., 35–37.
Ost- und Westdeutschland unterscheiden sich grundsätzlich in ihrer Bevölkerungsentwicklung und regionalen Struktur (Abbildung 2). Die ostdeutschen Flächenländer sind deutlich stärker ländlich geprägt. Von 1990 bis 2017 stieg der Bevölkerungsanteil in ländlichen Regionen in Ostdeutschland von 68 auf 71 Prozent. In den Flächenländern West- und Norddeutschlands liegt dieser Anteil viel niedriger; er stieg im gleichen Zeitraum in Süddeutschland von 19 auf 23 Prozent und in Norddeutschland von 30 auf 31 Prozent. Die ländliche Prägung Ostdeutschlands hat sich durch hohe Abwanderungen seit der Wiedervereinigung noch verstärkt. Die ostdeutschen Flächenländer haben seit der Wiedervereinigung insgesamt 16 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Dabei ging die Bevölkerung in den städtischen RegionenOhne Berlin; Berlin (West und Ost) zählt hierbei zu den Stadtstaaten. zwischen 1990 und 2017 mit 23 Prozent besonders zurück, in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands waren es 13 Prozent. Nord- und Süddeutschland sowie die StadtstaatenStadtstaaten: Berlin (West und Ost), Hamburg, Bremen. verzeichneten demgegenüber einen – regional differenzierten – Bevölkerungszuwachs.Während sich im Norden städtische und ländliche Regionen gleichförmig entwickelten, erfolgte der Bevölkerungszuwachs im Süden nahezu ausschließlich in den ländlichen Gebieten – mutmaßlich infolge des starken Anstiegs der Wohnungs- und Mietpreise in vielen städtischen Regionen Süddeutschlands.
Der Systemwechsel nach dem Mauerfall führte insbesondere bei jungen Erwachsenen in Ostdeutschland vielfach zu einer Zurückstellung der Familienplanung, verbunden mit einem plötzlichen, erheblichen Geburtenrückgang. Außerdem kam es zu starken Abwanderungen von Ost- nach Westdeutschland unmittelbar nach der Wiedervereinigung sowie zwischen 2000 und 2005, insbesondere von Jüngeren im Alter von 20–30 Jahren. Vor allem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre wanderten mehr Frauen als Männer aus Ostdeutschland ab, hingegen wanderten mehr Männer als Frauen zu. Dies führte in Teilen Ostdeutschlands zu einem zeitweise erhöhten Frauenmangel.Vgl. dazu die folgenden Beiträge in Krause und Ostner (Hrsg.) (2010), a.a.O.: Thomas Klein, Johannes Stauder und Armando Häring: Gelegenheiten des Kennenlernens. Der Partnermarkt in Ost- und Westdeutschland, 187–209; Wiebke Rösler: Die ost-westdeutsche Partnerwahl. Wanderungen, Vorurteile, Wohlstandsunterschiede, 211–226; sowie Michael Windzio: Die Abwanderung Arbeitsloser von Ost- nach Westdeutschland. Zur institutionellen Bindewirkung des Wohlfahrtsstaates, 277–298. Infolge dieser geschlechtsdifferenzierten WanderungsverlusteDas Ost-West-Binnenwanderungssaldo ist seit 2010 ausgeglichen. Vgl. Berlin-Institut (2015), a.a.O., 16; sowie IWH (2019), a.a.O., 35., GeburtenausfälleDie Geburtenrate in Ostdeutschland ist nach der Wiedervereinigung stark abgesunken. Um 2005/2006 hat sie sich wieder an das westdeutsche Niveau angeglichen. Der Anteil der kinderlosen Frauen ist in Westdeutschland weiterhin höher. Berlin-Institut (2015), a.a.O., 12–13. und zunehmender LebenserwartungDie Lebenserwartung hat sich in Ostdeutschland seit 1990 bei Frauen inzwischen gänzlich und bei Männern weitgehend an das höhere Westniveau angeglichen. Berlin-Institut (2015), a.a.O., 48. haben sich die Altersstruktur und sozio-demografischen Haushaltszusammensetzungen in Ostdeutschland gewandelt.
Die vormals eher jüngere ostdeutsche Bevölkerung hat sich – schneller als in Westdeutschland – zu einer eher älteren Bevölkerungsschichtung entwickelt (Abbildung 3 oben). Grund hierfür waren Geburtenausfälle, Abwanderungen und auch eine weit geringere externe Zuwanderung. Der Bevölkerungsanteil von Familien mit ein bis zwei Kindern sank in Ostdeutschland von 38 Prozent im Zeitraum 1990–1994 auf 22 Prozent im Zeitraum 2015–2017Für die Beschreibung des aktuellen Rands werden im Folgenden meist Durchschnittswerte für den Zeitraum 2015 bis 2017 verwendet. (Tabelle 1). Er sank damit auf einen Wert unterhalb des Westniveaus (in Westdeutschland gab es einen Rückgang von 30 Prozent auf 25 Prozent). Damit einhergehend hat sich in den gleichen Zeiträumen auch der Bevölkerungsanteil der jüngeren – überwiegend männlichen – Ein-Personen-Haushalte in Ostdeutschland von vier Prozent auf zwölf Prozent erhöht (in Westdeutschland von sieben Prozent auf neun Prozent). Dies spiegelt auch die Folgen des Geburtenausfalls und des geschlechtsdifferenten Wanderungsmusters wider.Vgl. Katja Salomo (2019): Abwanderung, Alterung, Frauenschwund. Die verkannte Gefahr für eine offene Gesellschaft. WZB-Mitteilungen Heft 165, 10–12 (online verfügbar).
In Prozent
Westdeutschland | Ostdeutschland | |||||||
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1990–1994 | 1995–2009 | 2010–2017 | darunter: 2015–2017 | 1990–1994 | 1995–2009 | 2010–2017 | darunter: 2015–2017 | |
Ein-Personen-Haushalt bis 54 Jahre | 6,9 | 7,9 | 8,8 | 8,8 | 4,2 | 8,1 | 11,7 | 11,9 |
davon: männlich (in Prozent) | 57,1 | 59,8 | 57,4 | 57,4 | 70,3 | 69,2 | 65,0 | 64,9 |
Familien-Haushalt mit ein bis zwei Kindern | 30,1 | 30,5 | 25,9 | 25,5 | 38,3 | 28,0 | 20,9 | 21,6 |
Ein-Eltern-Haushalt mit einem und mehr Kindern | 3,2 | 4,4 | 4,5 | 4,4 | 4,1 | 5,3 | 6,0 | 6,2 |
Anmerkung: Ostdeutschland einschließlich Berlin Ost.
Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf SOEPv34.
Markant sind weiterhin die Unterschiede in den Bevölkerungsanteilen mit Migrationshintergrund und bei SchutzsuchendenSchutzsuchende sind Geflüchtete und Asylbewerber.. Der Anteil der Bevölkerung mit direktem Migrationshintergrund (Zuzug aus dem Ausland) stieg in Westdeutschland von elf Prozent im Zeitraum 1990–1994 auf 15 Prozent im Zeitraum 2010–2017, und der Anteil der Bevölkerung mit indirektem Migrationshintergrund (Kinder von Migranten) stieg von fünf Prozent auf elf Prozent (Abbildung 3 unten).Zuwanderungen aus den (westlichen) EU-Ländern kamen dabei vor allem westlichen Landesteilen zugute; vgl. IWH (2019), a.a.O., 52. In Ostdeutschland gibt es viel weniger Menschen mit Migrationshintergrund. Hier stieg der Bevölkerungsanteil mit direktem Migrationshintergrund in den gleichen Zeiträumen lediglich von zwei Prozent auf vier Prozent und der Anteil mit indirektem Migrationshintergrund von einem Prozent auf drei Prozent. Der Bevölkerungsanteil an Schutzsuchenden ist in beiden Landesteilen deutlich geringer. Er lag für Personen mit direktem Asyl- oder FluchthintergrundHierbei werden nur Geflüchtete mit Migrationshintergrund gezählt. Innerdeutsche Fluchtbewegungen infolge des zweiten Weltkriegs oder DDR-Geflüchtete (vor 1989) bleiben unberücksichtigt. im Zeitraum 2010–2017 in Westdeutschland bei zwei Prozent und in Ostdeutschland bei 0,4 Prozent.Zuletzt sind diese Anteile noch etwas gestiegen. Im Zeitraum 2015–2017 betrug der Bevölkerungsanteil der Schutzsuchenden in Westdeutschland 2,4 Prozent, in Ostdeutschland 0,8 Prozent.
In Westdeutschland sind die Erwerbstätigenquoten der 25- bis 64-Jährigen seit der Wiedervereinigung gestiegen und haben zuletzt mit über 80 Prozent einen neuen Höchststand erzielt. Grund hierfür war insbesondere eine erhöhte Erwerbsbeteiligung von Frauen sowie von älteren ArbeitnehmerInnen (Abbildung 4).Die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Älteren traf Männer (65) und Frauen (60) unterschiedlich wegen der Angleichung des Renteneintrittsalters, Vorruhestands- und Übergangsregelungen (63) sowie der Erhöhung des Renteneintrittsalters (ab 67). Dabei hat sich die Frauen-Erwerbsbeteiligung in Westdeutschland der – vormals höheren – Frauen-Erwerbsbeteiligung in Ostdeutschland angeglichen.
Die Struktur der Beschäftigten (im Alter von 25 bis 64 Jahren) hat sich in beiden Landesteilen seit der Wiedervereinigung verändert. In Westdeutschland verringerte sich der Anteil von un- und angelernten ArbeiterInnen von 17 Prozent im Zeitraum 1990–1994 auf 13 Prozent im Zeitraum 2010–2017; der Anteil von FacharbeiterInnen und MeisterInnen sank von 17 auf elf Prozent (Abbildung 5). Erhöht hat sich hingegen der Anteil von einfachen Angestellten (von zwölf auf 14 Prozent), von qualifizierten Angestellten (von 22 auf 27 Prozent) sowie von leitenden Angestellten (von zwölf auf 17 Prozent).
Der ostdeutsche Arbeitsmarkt unterlag durch den rapiden Erwerbsabbau bereits seit Beginn der 1990er Jahre wirtschaftlichen Spannungen, die sich in der wirtschaftlichen Schwächeperiode nach 2000 noch verstärkten. Unmittelbar nach der Wiedervereinigung sanken zunächst durch den Erwerbsabbau die vormals hohen Erwerbstätigenquoten der 25- bis 64-Jährigen aufgrund der höheren Arbeitslosigkeit unter die der westdeutschen Bevölkerung, sie stiegen bis 2017 aber wieder an (Abbildung 4). Dabei veränderte sich auch die Struktur der Erwerbstätigen. Der Anteil der FacharbeiterInnen und MeisterInnen verringerte sich von gut 35 Prozent im Zeitraum 1990–1994 auf knapp 18 Prozent im Zeitraum 2010–2017. Dagegen erhöhte sich der Anteil der einfachen Angestellten von 11 auf 16 Prozent sowie der qualifizierten Angestellten von 17 auf knapp 24 Prozent. Der Beschäftigtenanteil von qualifizierten, hochqualifizierten und leitenden Berufen hat sich insgesamt erhöht, liegt aber weiterhin niedriger als in Westdeutschland.
Die Entwicklung der Erwerbseinkommen und Löhne verlief in Ost- und Westdeutschland wechselhaft (Tabelle 2). In Ostdeutschland erhöhten sich die nach der Wiedervereinigung zunächst sehr niedrigen Erwerbseinkommen und Löhne, und die anfangs hohen Niedrigeinkommens- und Niedriglohnquoten gingen zunächst zurück. Infolge der wirtschaftlichen Schwächephase nach dem Jahrtausendwechsel erhöhte sich aber in beiden Landesteilen der Anteil von gering vergüteten BeschäftigungsverhältnissenVgl. Markus M. Grabka und Carsten Schröder (2019): Der Niedriglohnsektor in Deutschland ist größer als bislang angenommen. DIW Wochenbericht Nr. 14, 249–257 (online verfügbar)., und die Ungleichheit der Erwerbseinkommen stieg bis Mitte der 2000er Jahre. Die mittleren Erwerbseinkommen und Stundenlöhne entwickelten sich zeitweise rückläufig oder stagnierten, stiegen aber zuletzt wieder etwas an. In Ostdeutschland lagen die Anteile der Niedrigeinkommen und Niedriglöhne seit der Wiedervereinigung durchweg über den westdeutschen Vergleichswerten. Im Zeitraum 2015–2017 waren 31 Prozent aller westdeutschen und knapp 45 Prozent aller ostdeutschen Erwerbstätigen von geringen Erwerbseinkommen sowie 21 Prozent aller westdeutschen und 39 Prozent aller ostdeutschen Erwerbstätigen von Niedriglohn betroffen.Niedrigeinkommen und Niedriglöhne werden anhand gesamtdeutscher Schwellenwerte berechnet (vgl. Anmerkungen in Tabelle 2).
Westdeutschland | Ostdeutschland | |||||||
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1990–1994 | 1995–2009 | 2010–2017 | darunter: 2015–2017 | 1990–1994 | 1995–2009 | 2010–2017 | darunter: 2015–2017 | |
Brutto-Erwerbseinkommen | ||||||||
Arithmetisches Mittel (Euro pro Monat) | 2845 | 3021 | 2984 | 3050 | 1684 | 2272 | 2306 | 2388 |
Median (Euro pro Monat) | 2620 | 2754 | 2653 | 2700 | 1527 | 2081 | 2047 | 2100 |
Median (Vollzeit, Euro pro Monat) | 2701 | 2953 | 2991 | 3069 | 1547 | 2110 | 2239 | 2321 |
Gini-Koeffizient | 0,30 | 0,34 | 0,37 | 0,37 | 0,23 | 0,29 | 0,33 | 0,33 |
Niedrigeinkommen2 (Prozent) | 19,9 | 26,3 | 30,5 | 30,9 | 54,3 | 39,7 | 44,4 | 44,6 |
Stundenlöhne | ||||||||
Arithmetisches Mittel (Euro pro Stunde) | 18,0 | 19,0 | 18,9 | 19,4 | 9,4 | 13,6 | 14,2 | 14,8 |
Median (Euro pro Stunde) | 15,7 | 16,9 | 16,5 | 16,9 | 8,5 | 12,1 | 12,4 | 12,8 |
Median (Vollzeit, Euro pro Stunde) | 15,3 | 16,9 | 17,0 | 17,4 | 8,3 | 11,7 | 12,5 | 13,1 |
Gini-Koeffizient | 0,28 | 0,29 | 0,30 | 0,30 | 0,23 | 0,28 | 0,30 | 0,29 |
Niedriglöhne3 (Prozent) | 10,4 | 16,0 | 20,5 | 20,6 | 57,5 | 37,0 | 39,8 | 39,4 |
1 Bevölkerung im Befragungsalter von 25 bis 64 Jahren.
2 Niedrigeinkommen Gesamtdeutschland: ≤ 66 Prozent des Medianeinkommens aus Vollzeitarbeitsverhältnissen (≥ 30 Stunden/Woche).
3 Niedriglöhne Gesamtdeutschland: ≤ 66 Prozent des Medianstundenlohns aus Vollzeitarbeitsverhältnissen (≥ 30 Stunden/Woche).
Anmerkungen: Ostdeutschland einschließlich Berlin-Ost. Erwerbseinkommen und Löhne preisbereinigt zu Preisen von 2017, bis 1997 getrennt für Ost- und Westdeutschland. Berechnung des Stundenlohns: Monatliches Bruttoerwerbseinkommen (imputiert) / (Arbeitszeit × 13/3). Arbeitszeit: „Vertraglich vereinbarte Arbeitszeit“, wenn Arbeitszeitkonto oder Ausgleichsfrist vorhanden oder Überstunden (teils) abgefeiert; „tatsächliche Arbeitszeit“ wenn Überstunden bezahlt oder nicht abgegolten werden.
Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf SOEPv34.
Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte geben Auskunft über die materiellen Lebensbedingungen von allen Haushaltsmitgliedern.Vgl. Markus M. Grabka, Jan Goebel und Stefan Liebig (2019): Wiederanstieg der Einkommensungleichheit – aber auch deutlich steigende Realeinkommen. DIW Wochenbericht Nr. 19, 343–353 (online verfügbar). Die mittleren Vorjahreseinkommen (Median, preisbereinigt)Die Vorjahreseinkommen sind hier ausgewiesen zum Erhebungsjahr, äquivalenzgewichtet (revidierte OECD-Skala) und zu Preisen von 2017. Bis 1997 wurden die Preisentwicklungen in Ost- und Westdeutschland getrennt berücksichtigt. Ungeachtet dessen bestehen – insbesondere in vielen Regionen Ostdeutschlands – noch weiterhin Kaufkraftvorteile. Vgl. Jan Goebel et al. (2010): Eine exemplarische Anwendung der regionalisierten Preisniveau-Daten des BBSR auf die Einkommensverteilung für die Jahre 2005 bis 2008 – zugleich eine Dokumentation verschiedener Preisniveau-Zeitreihen für das vereinigte Deutschland. In: Joachim Möller, Eckardt Hohmann und Denis Huschka (Hrsg.): Der weiße Fleck – zur Konzeption und Machbarkeit regionaler Preisindizes. Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung, IAB-Bibliothek Bd. 324, 419–444; vgl. auch Peter Krause (2018): Wiedervereinigung und die Annäherung der Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland. In: Marcel Erlinghagen, Karsten Hank und Michaela Kreyenfeld (Hrsg.): Innovation und Wissenstransfer in der empirischen Sozial- und Verhaltensforschung (Festschrift für Gert G. Wagner), 101–148. haben sich in Westdeutschland von der Wiedervereinigung bis 2009 im langjährigen Mittel nicht erhöht und sind erst im Zuge des folgenden wirtschaftlichen Aufschwungs auf 22354 Euro im Jahr 2017 gestiegen (Abbildung 6). In Ostdeutschland haben sich die verfügbaren Einkommen seit der Wiedervereinigung deutlich erhöht, die relativen Abstände der Median-Einkommen verharren aber seit Mitte der 1990er Jahre auf etwa 85 Prozent des West-Niveaus.
Die Einkommensverteilung hat sich seit der Wiedervereinigung in West- und Ostdeutschland auch in ihrer Schichtung verändert. Die Bevölkerungsanteile bei den höheren und unteren Einkommen sind (gemessen am gesamtdeutschen Median) jeweils gestiegen (Abbildung 7). Die vormals breiten mittleren Einkommensschichten haben hingegen Bevölkerungsanteile verloren. Die verfügbaren Haushaltseinkommen in Ostdeutschland befanden sich nach der Wiedervereinigung vorwiegend in der unteren Einkommenshälfte der gesamtdeutschen Verteilung. Nach Einkommenszuwächsen und zunehmender Einkommensspreizung sind die Osteinkommen inzwischen auch in den mittleren und höheren Einkommensschichten der gesamtdeutschen Verteilung breiter vertreten, bleiben aber weiterhin in den unteren Einkommensschichten überrepräsentiert.
Die Risikoquote zur Einkommensarmut hat sich in Westdeutschland (wiederum gemessen am gesamtdeutschen Median) von zehn Prozent im Zeitraum 1992–1994 auf 14 Prozent im Zeitraum 2010–2017 erhöht. In Ostdeutschland wuchs die entsprechende Armutsrisikoquote ungeachtet der Einkommenszuwächse ebenfalls, und sie lag durchgehend auf höherem Niveau als in Westdeutschland (17 Prozent im Zeitraum 1992–1994 und 20 Prozent 2010–2017).
Die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen in Ostdeutschland hat sich seit der Wiedervereinigung vergrößert und liegt inzwischen etwa auf dem westdeutschen Ungleichheitsniveau zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung. Der Einkommensanteil der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung ist gestiegen und lag im Zeitraum 2015–2017 in Westdeutschland bei 22 Prozent und in Ostdeutschland bei 21 Prozent; der Anteil der ärmsten 40 Prozent ist hingegen in Westdeutschland auf 23 Prozent und in Ostdeutschland auf 24 Prozent gesunken (Tabelle 3). Die zunehmende Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen zeigt sich auch am Gini-KoeffizientDer Gini-Koeffizient ist ein Verteilungsmaß mit Werten zwischen 0 und 1, das die Ungleichheit der Einkommen misst. Ein Wert von 0 besagt, dass alle Personen über dasselbe Einkommen verfügen, bei einem Wert von 1 verfügt eine Person über das gesamte Einkommen und alle anderen gehen leer aus. Vgl. OECD (2015): In It Together: Why Less Inequality Benefits All. OECD Publishing, Paris (online verfügbar).: Er hat sich in Westdeutschland von 0,25 im Zeitraum 1992–1994 auf 0,29 im Zeitraum 2015–2017 erhöht, in Ostdeutschland von 0,21 auf 0,26. Die verfügbaren Haushaltseinkommen sind unter anderem infolge der geringeren Besetzung bei den hohen Einkommen somit weiterhin in Ostdeutschland etwas gleicher verteilt als in Westdeutschland.
Westdeutschland | Ostdeutschland | |||||||
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1992–1994 | 1995–2009 | 2010–2017 | darunter: 2015–2017 | 1992–1994 | 1995–2009 | 2010–2017 | darunter: 2015–2017 | |
Einkommensungleichheit | ||||||||
Gini-Koeffizient der Netto-Einkommen | 0,25 | 0,27 | 0,29 | 0,29 | 0,21 | 0,22 | 0,25 | 0,26 |
Gini-Koeffizient der Markt-Einkommen | 0,42 | 0,47 | 0,49 | 0,50 | 0,41 | 0,52 | 0,54 | 0,53 |
Reduktion der Ungleichheit durch Umverteilung (Prozent) | 40,2 | 42,7 | 41,3 | 41,1 | 49,1 | 56,9 | 52,5 | 51,4 |
Einkommensanteile (in Prozent) | ||||||||
Reichste zehn Prozent | 20,4 | 21,8 | 22,2 | 22,0 | 17,7 | 18,9 | 20,2 | 20,6 |
Ärmste 40 Prozent | 24,6 | 23,9 | 22,8 | 22,6 | 27,1 | 26,0 | 24,1 | 23,8 |
Anmerkung: Ostdeutschland einschließlich Berlin-Ost. Haushaltseinkommen des Vorjahres (ausgewiesen zum Erhebungsjahr), äquivalenzgewichtet (revidierte OECD-Skala), preisbereinigt (zu Preisen von 2017, bis 1997 getrennt für Ost- und Westdeutschland).
Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf SOEPv34.
Nicht nur bei den Haushaltsnettoeinkommen, auch bei den zugrundeliegenden Haushaltsmarkteinkommen ist die Ungleichheit gestiegen. Dabei waren die Markeinkommen bereits seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in Ostdeutschland ungleicher verteilt als in Westdeutschland. Die geringere Ungleichheit der Haushaltsnettoeinkommen in Ostdeutschland ist eine Folge der (sozial-)staatlichen Umverteilung. Die Reduktion der Einkommensungleichheit durch Umverteilung war zuletzt leicht rückläufig, ist aber im internationalen Vergleich weiterhin außerordentlich hoch.Beim Vergleich der Ungleichheit von Haushaltsmarkteinkommen und den daraus abgeleiteten Haushaltsnettoeinkommen in verschiedenen OECD-Ländern werden in keinem anderen OECD-Land Umverteilungsquoten über 50 Prozent erreicht. Vgl. Krause (2018), a.a.O., 132–133. Im Zeitraum 2015–2017 verringerte die Umverteilung die Einkommensungleichheit in Ostdeutschland um 51 Prozent, in Westdeutschland um 41 Prozent.
Die Einkommensentwicklungen verliefen für die ostdeutsche Bevölkerung in den jeweiligen biografischen Lebensphasen unterschiedlich. Viele Ältere konnten vom Systemwechsel profitieren. Ihre Alterseinkommen wuchsen infolge der zurückliegenden langen Erwerbszeiten unmittelbar nach der Wiedervereinigung schlagartig an. Die Armutsrisikoquoten der Älteren (über 70 Jahre) sind in Ostdeutschland seit Mitte der 1990er Jahre niedriger als in Westdeutschland.Vgl. Jan Goebel und Peter Krause (2018): Einkommensentwicklung – Verteilung, Angleichung, Armut und Dynamik. In: Statistisches Bundesamt, Wissenschaftszentrum Berlin (in Zusammenarbeit mit SOEP am DIW Berlin) (Hrsg.): Datenreport 2018, Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, 239–253 (online verfügbar). Für die früheren Jahre vgl. auch Datenreport 1997 und Datenreport 2002. Demgegenüber waren die Jüngeren, 1990 noch am Beginn der Erwerbskarriere stehenden Altersgruppen im Lebensverlauf mehrfach von erhöhten Arbeitsmarkt- und damit verbundenen Einkommensrisiken betroffen. Für diese Erwerbskohorten zeichnen sich mit dem Eintritt ins Rentenalter erhöhte Risiken zur Altersarmut ab.Vgl. Julia Simonson et al. (2012): Ostdeutsche Männer um 50 müssen mit geringeren Renten rechnen. DIW Wochenbericht Nr. 23, 3–13 (online verfügbar).
Im Sozio-oekonomischen Panel enthaltene Fragen zur allgemeinen Lebenszufriedenheit und zu wirtschaftlichen Sorgen spiegeln die Bewertungen und Ängste in der Bevölkerung zu den wahrgenommenen Lebensbedingungen wider. Die Antworten reflektieren somit – neben konjunkturell bedingten Eindrücken – auch die individuellen Erfahrungen in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung.
Unmittelbar nach dem Mauerfall spiegeln die Zufriedenheitsverläufe sowohl positive Vereinigungserwartungen als auch subjektive Anpassungsleistungen wider (Abbildung 8). In Ostdeutschland schlägt sich dies in einer niedrigeren Lebenszufriedenheit und höheren wirtschaftlichen Sorgen als in Westdeutschland nieder. Bis 1994 nahm die Zufriedenheit dann wieder etwas zu, und die Sorgen nahmen ab. In Westdeutschland war der Trend in dieser Phase genau gegenläufig. Diese Entwicklung kann unter anderem interpretiert werden als eine Angleichung der subjektiven Bewertungsmaßstäbe an die neuen wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen.Vgl. Peter Krause (2016): Quality of life and inequality. In: Luigino Bruni und Pier Luigi Porta (Hrsg.): Handbook of Research Methods and Application in Happiness and Quality of Life. Edward Elgar Publishing, 111–147; sowie Krause (2018) a.a.O.
Ab 1995 folgten die Entwicklungen der Zufriedenheiten und Sorgen deutlich den wirtschaftlichen Verläufen. Dies geschah weitgehend synchron in Ost- und Westdeutschland – bei erheblichen, aber abnehmenden Niveauunterschieden. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zeigten sich zunächst noch positive Zufriedenheitsentwicklungen. Im Zuge der zum Jahrtausendwechsel einsetzenden wirtschaftlichen Schwächephase fielen die mittleren Zufriedenheitswerte bis 2004 auf einen Tiefpunkt, begleitet von einem Anstieg der wirtschaftlichen Sorgen. Die zu dieser Zeit im Ost-West-Vergleich deutlich höhere Arbeitslosigkeit ging demnach mit großen Zufriedenheitsabständen einher. Seit 2006 haben sich die Zufriedenheitswerte im Kontext der positiven sozio-ökonomischen Entwicklungen in Ost und West fast kontinuierlich erhöht, und die Ost-West-Abstände sind gesunken. Gleichzeitig haben sich die wirtschaftlichen Sorgen – mit einer Unterbrechung infolge der Finanzkrise – verringert.
Die oben dargestellten Fortschritte bei der Angleichung der Lebensverhältnisse lassen sich in drei Entwicklungsphasen zusammenfassen.
Die Phase der institutionellen und sozialpolitischen Angleichung (1990–1994) umfasst die unmittelbaren Folgen des Systemwechsels in Ostdeutschland, insbesondere die Privatisierung der Wirtschaft sowie die Einführung und Umsetzung diverser sozialstaatlicher Maßnahmen. Die Privatisierung der vormals staatlichen Wirtschaftsbetriebe über die Treuhand war 1994 abgeschlossen. Mit dem Systemwechsel stiegen in Ostdeutschland die Produktivität der Betriebe und die Wirtschaftsleistung stark an. Im Zuge dessen haben sich auch die Einkommen der privaten Haushalte in dieser Phase stark erhöht, insbesondere die Renten. Zugleich erfolgte ein Abbau der vormals hohen Erwerbsquoten. Dies war verbunden mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit, die zu hohen Abwanderungen führten.
Die zweite Phase (1995–2009) ist gekennzeichnet durch die Entwicklung des gemeinsamen Arbeitsmarktes sowie durch wirtschaftliche Schwächephasen und Krisen, die die Erwerbskohorten in Ostdeutschland (insbesondere bis 2005) stärker erfassten als in Westdeutschland.
Wechselhafte Entwicklungen der Erwerbs- und Haushaltseinkommen sowie zunehmende Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und Einkommensarmut gingen nach dem Jahrtausendwechsel einher mit abermals erhöhten Abwanderungen aus Ostdeutschland. Die subjektiven Belastungen in der Bevölkerung zeigen sich in dieser Phase in zwischenzeitlich sinkenden Zufriedenheitsniveaus sowie steigenden wirtschaftlichen Sorgen. Nach 2005 gingen die hohen Arbeitslosenquoten langsam wieder zurück. Die Einkommensungleichheit und Einkommensarmut blieben aber auf hohem Niveau weitgehend stabil.
Die dritte Phase brachte eine weitere wirtschaftliche und soziale Angleichung mit sich. Sie begann um das Jahr 2010 herum, als die ersten nach der Wiedervereinigung Geborenen in das Berufsleben eintraten. Seitdem hat sich der gesamtdeutsche Arbeitsmarkt weiter erholt. Die Wirtschaftsleistung stieg deutlich an, die Erwerbstätigenquoten erreichten einen neuen Höchststand, die Arbeitslosenquoten verringerten sich, die Haushalts- und Erwerbseinkommen verzeichneten reale Zuwächse und auch die Binnenwanderungs-Salden zeigen nunmehr eine ausgeglichene Bilanz. In der Folge verringerten sich auch die subjektiven Ost-West-Unterschiede in den SOEP-Befragungen deutlich. Einkommensungleichheit, -armut und Niedriglohnanteile verharrten indes weiter auf hohem Niveau. Ungeachtet der erzielten Angleichungsfortschritte bleiben somit gewisse Niveauunterschiede im Lebensstandard und der wahrgenommenen Lebensqualität im Ost-West-Vergleich weiterhin bestehen.Seit 2013 sind die Sorgen um den Erhalt des Friedens in Deutschland und um den Zusammenhalt in der Gesellschaft in Ost- und Westdeutschland stark gestiegen. Clara Hoffmann und Jürgen Schupp (2018): Lebenszufriedenheit und Sorgen. In: Statistisches Bundesamt, Wissenschaftszentrum Berlin (in Zusammenarbeit mit SOEP am DIW Berlin) (Hrsg.): Datenreport 2018, Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn, 383–392 (online verfügbar).
Seit der Wiedervereinigung sind zweifelsohne gewaltige Fortschritte bei der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland erfolgt. Innerhalb der letzten 30 Jahre sind allerdings – in beiden Landesteilen – auch die Einkommensungleichheit und Armutsrisikoquoten gestiegen. Die Niedriglohn- und Niedrigerwerbseinkommensquoten haben sich seit Mitte der 1990er Jahre erhöht. Bei den Beschäftigten ist vor allem in Ostdeutschland der Anteil der FacharbeiterInnen und MeisterInnen deutlich gesunken und der Anteil der höher qualifizierten Beschäftigten ist gestiegen. Fortschritte sind auch bei der demographischen Angleichung der Lebenserwartung, der Geburtenraten und den inzwischen ausgeglichenen Wanderungsbewegungen zu erkennen.
Allerdings gibt es auch noch Angleichungsdefizite für Ostdeutschland. Insbesondere ist die Wirtschaftskraft im Osten nach wie vor geringer als im Westen, der Anteil hochqualifizierter Beschäftigter ist geringer, und die Anteile der Beschäftigten mit Niedriglohn bzw. geringen Erwerbseinkommen sowie die Armutsrisikoquoten sind höher. Unterschiede ergeben sich dabei auch durch den stärker ländlich geprägten Raum Ostdeutschlands. Zudem weisen die deutlich geringeren Anteile von Migranten auf weiter anhaltende regionsspezifische Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland hin.
Dem seit der Wiedervereinigung verfolgten politischen Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ostdeutschland wurde in weiten Teilen entsprochen. Dies zeigt sich auch in den Befragungsergebnissen des SOEP, die für breite Bevölkerungsschichten positive Bewertungsmuster bei Zufriedenheiten und wirtschaftlichen Sorgen offenbaren.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen sollte sich das Ziel der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Zukunft stärker auf die regionale und föderale Vielfalt in allen Landesteilen beziehen. Neben der Förderung der regionalen WirtschaftskraftVgl. dazu auch BMWi (2019) a.a.O.; IWH (2019), a.a.O.; Ragnitz et al. (2019), a.a.O. – in allen Bundesländern – sind insbesondere in Ostdeutschland angesichts der starken sozio-demographischen Veränderungen auch regionale Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts in den Blick zu nehmen. Dies könnte zum Beispiel durch Ausweitungen und Verbesserungen der BildungseinrichtungenRegionale Unterschiede bei geringeren tertiären Bildungsabschlüssen sowie höheren Schulabbrecherquoten treten vor allem in Ostdeutschland auf. Vgl. IWH (2019), a.a.O, 58–59. und der Familienpolitik geschehen. Die Schaffung und Erhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Landesteilen und Regionen bleibt weiterhin ein wichtiges Ziel gesamtdeutscher Politik, das sich aber nicht mehr primär am Ost-West-Vergleich, sondern stärker an den regionalen Disparitäten in allen Landesteilen orientieren sollte.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Arbeit und Beschäftigung
JEL-Classification: D31;I31
Keywords: German reunification; adaptation of living conditions
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2019-45-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/206701