Pressemitteilung vom 23. März 2015
Der aktuelle DIW-Wochenbericht stellt die Kernergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten WISIND-Projektes vor – Abschlusskonferenz in Berlin
Identitätsdiebstahl, Phishing, Onlinebetrug mit Waren- und Dienstleistungen sowie Angriffe mit Schadsoftware kosten die Privatbürger in Deutschland pro Jahr rund 3,4 Milliarden Euro. Das ist eines der Kernergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojektes „Wirtschaftswissenschaftlicher Sicherheitsindikator für Deutschland“ (WISIND), das das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) gemeinsam mit dem Brandenburgischen Institut für Gesellschaft und Sicherheit (BIGS) durchgeführt hat. Weitere Erkenntnisse: Alleinlebende fürchten sich weniger vor Kriminalität als in Gemeinschaft lebende, Alte nur wenig mehr als Junge. Trotz ähnlicher Kriminalitätsbelastung fürchten Berliner mehr als Menschen aus dem Ruhrgebiet, Opfer einer Straftat zu werden. Für das Projekt wurden im Sommer 2014 gut 12.000 Personen telefonisch ausführlich zu ihrem Sicherheitsempfinden sowie gut 2.500 Personen und 200 Experten zur Gewichtung verschiedener Straftaten online befragt. Die Angaben wurden nach soziodemografischen Faktoren und Regionen geordnet und mit Daten der amtlichen Kriminalitätsstatistik verglichen. Die Forscher schufen durch eine Vielzahl klassischer sowie neuer Methoden eine komplett neue Datengrundlage und fanden überraschende Erkenntnisse. Zur Abschlusskonferenz, die am 23. März am DIW Berlin stattfand, wurde die Online-Seite des Projektes (www.sicherheitsindikator.de) als interaktive Plattform in Betrieb genommen, über die sich Politiker, Wissenschaftler und interessierte Bürger auch über Daten ihrer Region informieren können.
Internetkriminalität in Deutschland wird massiv unterschätzt
Straftaten wie der Diebstahl von Online-Identitäten und Passwörtern, Onlinebetrug mit Waren- und Dienstleistungen sowie Angriffe sogenannter Schadsoftware kommen in Deutschland der Studie zufolge wesentlich häufiger vor als angenommen. Allein das Abfangen von Passwörtern und persönlichen Daten, das sogenannte Phishing, verursacht laut WISIND-Schätzung einen etwa um Faktor 50 höheren Schaden, als Zahlen zu angezeigten Straftaten in dem Bereich vermuten lassen. Die Befragungsdaten lassen annehmen, dass jeder fünfte Bürger im Land Opfer von Internetkriminalität wurde. Pro Jahr kommt es demnach zu rund 14,7 Millionen Internetstraftaten. Einen großen Teil (63 Prozent) machen dabei die Schadsoftware-Angriffe aus. Die polizeiliche Kriminalstatistik weist hingegen für das Jahr 2013 insgesamt nur rund 64.000 gemeldete Onlinestraftaten aus. Privatpersonen in Deutschland entsteht den WISIND-Berechnungen zufolge pro Jahr ein Schaden von rund 3,4 Milliarden Euro. Jeder Privatperson gehen dabei rechnerisch jährlich elf Euro durch Identitätsdiebstahl und zehn Euro durch Phishing verloren. Etwa sieben Euro Schaden entstehen ihr durchschnittlich durch Waren- und Dienstleistungsbetrug, etwa 14,70 Euro Schaden entstehen in Folge von Schadsoftwarebefall. Straftaten zu Lasten von Unternehmen sind dabei nicht mitgezählt (Weitere Einzelheiten im Bericht „Tatort Internet: Kriminalität verursacht Bürgern Schäden in Milliardenhöhe“).
Lokale Kriminalitätsberichterstattung liefert verzerrtes Abbild der Realität
Obwohl also ein großer Teil der Bevölkerung bereits Opfer von Internetkriminalität geworden ist oder sich davor fürchtet, spielt diese Kriminalitätsform in der Berichterstattung der Regional- und Lokalteile deutscher Abo-Zeitungen kaum eine Rolle. Das fanden die Forscher bei einem Vergleich von Kriminalitätsberichterstattung und tatsächlicher Kriminalitätsbelastung heraus. Die häufig unterstellte „Allgegenwart von Kriminalität in den Medien“ fanden sie dabei in der Gesamtheit nicht bestätigt. Nach Anzahl der Artikel haben Straftaten zwar einen relativ hohen Niederschlag in der Berichterstattung – beinahe jeder dritte Artikel befasste sich mit dem Thema Kriminalität. Wurde jedoch auch die Länge der Berichte berücksichtigt, war der Anteil mit weniger als sechs Prozent an der Länge aller Artikel eher gering. Dabei fokussierten die Medien deutlich überproportional auf Gewalt, Sexual- und Rohheitsdelikte. Leichte Delikte waren unterrepräsentiert. Während nur 0,8 Prozent aller Straftaten Tötungs- und Sexualdelikte sind, standen sie im Zentrum von 19 Prozent der Artikel über Kriminalität. Der Zusammenhang zwischen der Kriminalberichterstattung und dem Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bleibt diffus: So wird in Baden-Württemberg vergleichsweise wenig über Straftaten berichtet und auch die reale Kriminalitätsbelastung ist niedriger als andernorts. Trotzdem weisen die Bürger eine überdurchschnittlich hohe Kriminalitätsfurcht auf. (Weitere Einzelheiten im Bericht „Lokale Kriminalitätsberichterstattung: Abbild oder Zerrspiegel von Kriminalität“).
Kriminalitätsfurcht und tatsächliche Kriminalitätsbelastung nach Regionen
Die Frage, wie stark die Furcht der Menschen vor Kriminalität von der tatsächlichen Belastung durch Straftaten in ihrer Region geprägt ist, ist seit Jahrzehnten ein umstrittenes Thema. Das WISIND-Projekt hat durch die ausführlichen Befragungen von 12.094 Bürgern einen völlig neuen Datenzugang geschaffen. Bei der Auswertung zeigen sich einige überraschende Ergebnisse, etwa, dass die Opfer von Bedrohung und Pöbelei die größte Furcht vor Kriminalität haben. Obwohl diese Straftaten oft als Bagatellen abgetan werden, beeinflussen sie das Sicherheitsempfinden der Menschen offenbar sehr stark. Ebenfalls überrascht waren die Forscher von den Erkenntnissen, dass alleinlebende Menschen weniger Angst haben als der Durchschnitt, ältere nur unwesentlich mehr als jüngere und dass Eltern trotz der Sorge um ihre Kinder nur von leicht stärkeren Unsicherheitsgefühlen geplagt werden als Kinderlose.
Regional zeigen sich in Bezug auf die Kriminalitätsfurcht deutliche Unterschiede. Die gelegentlich geäußerte Vermutung, die Furcht der möglichen Opfer sei vielfach irrational und decke sich nicht mit der faktischen Sicherheit in einer Region, konnten die Forscher dabei nicht bestätigen. Sie fanden vielmehr heraus, dass die Menschen die tatsächliche Kriminalitätsbelastung ihres Umfeldes im Großen und Ganzen recht gut einschätzten. So ist die Furcht vor Kriminalität im Norden deutlich höher als im Süden, und auch die Zahl der begangenen Straftaten weist ein Nord-Süd-Gefälle auf. Einige Ausnahmen gab es jedoch: So zeigten sich Berliner deutlich ängstlicher als Menschen im Ruhrgebiet, obwohl die Bedrohung in beiden Fällen ähnlich hoch ist. Die Bürger in der Region um Stuttgart fühlen sich relativ unsicher, obwohl dort relativ wenige Straftaten begangen werden. (Weitere Einzelheiten in den Berichten „Regionale Kriminalitätsbelastung und Kriminalitätsfurcht – Befunde der WISIND-Studie“, „Sicherheitsempfinden in sozialen Medien und Suchmaschinen – ein realistisches Abbild der Kriminalitätsbelastung?“ und „Analoge und digitale Unsicherheiten: Eine neue Perspektive auf Kriminalitätsfurcht“).