DIW Wochenbericht 18 / 2021, S. 320
Dorothea Schäfer
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Der letzte von Ernst & Young (EY) testierte Geschäftsbericht der Wirecard AG stammt aus dem Jahr 2018 und trägt den Titel „Transition To Tomorrow“, oder frei übersetzt „Aufbruch in die Zukunft“. Heute wissen wir, dass diese Zukunft sehr kurz war: Am 24. Juni 2020 war sie zu Ende. Da musste das DAX-Unternehmen Insolvenz anmelden. Wenig später war der Vorstandschef im Gefängnis und sein langjähriger Weggefährte untergetaucht. Seither schwingt der Insolvenzverwalter bei Wirecard das Zepter und versucht zu retten, was zu retten ist. Wahrscheinlich ist das nicht allzu viel.
Das sind düstere Aussichten. Im November 2020 machten die GläubigerInnen Forderungen von mehr als zwölf Milliarden Euro geltend. Der Börsenwert von Wirecard betrug in den Hochzeiten mehr als 20 Milliarden Euro. Die Ansprüche der AktionärInnen sind nachrangig. Von der Insolvenzmasse bekommen sie erst dann etwas ab, wenn alle anderen Ansprüche bedient sind. Auch die vorrangigen GläubigerInnen werden vermutlich nur einen Bruchteil ihrer Forderungen wieder einbringen können. Die Banken müssen teils dreistellige Kredite abschreiben. Das tut weh!
Die Commerzbank, einer der Großgläubiger, will den Ausfall nicht einfach so hinnehmen und plant, EY auf Schadensersatz zu verklagen. Der Vorwurf: eine mögliche Vernachlässigung der Prüfpflichten. Und tatsächlich gehört es zu den großen Rätseln rund um den Wirecard-Bankrott, dass EY den Bilanzbetrug nicht entdeckt hat. Jahr um Jahr haben die PrüferInnen ein uneingeschränktes Testat erteilt, zuletzt für das Geschäftsjahr 2018. Da standen die Vorwürfe der Bilanzfälschung längst im Raum. Im „Bestätigungsvermerk des unabhängigen Abschlussprüfers“ schrieb EY: „Die Hinweise betrafen vor allem Scheingeschäfte bei der Beschaffung und dem Verkauf von Software und auch damit verbundene Kreislaufzahlungen. Ferner wurde die Rechtmäßigkeit von Zahlungen bzw. die ökonomische Substanz von Verträgen in Abrede gestellt.“
Anfang 2019 standen EY noch mehrere Wege offen, um dem jetzt drohenden Schaden aus dem Weg zu gehen, angefangen von der Einschränkung des Testats bis hin zur vorzeitigen Beendigung des Mandats. Keiner davon wurde beschritten. Erst nach dem für Wirecard negativen Sonderprüfbericht des Konkurrenten KPMG hat EY erstmals das Testat verweigert. Der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Wirecard-Desaster hat einen Sonderermittler für die EY-Akten eingesetzt. Der seit kurzem vorliegende Bericht ist bislang geheim. Durchgesickert sind indes Zweifel des Gutachters daran, ob EY die Vorgaben des Prüfungsstandards des Instituts der Wirtschaftsprüfer in Deutschland vollumfänglich umgesetzt hat.
Unabhängig von EY und Wirecard stellt sich daher die Frage, ob WirtschaftsprüferInnen bei Langzeit-Mandaten Opfer ihrer eigenen Flexibilität bei der Einschätzung kritischer Prüfinhalte werden können. Testieren PrüferInnen Jahr für Jahr kritische Tatbestände, gibt es möglicherweise einen „Kipppunkt“, ab dem kein Zurück mehr möglich erscheint. Dann wird nach dem Motto „Augen zu und durch“ verfahren und gehofft, dass es gut geht, weil es die ganzen Jahre gutgegangen ist. Insbesondere KleinanlegerInnen haben bei ihren Anlageentscheidungen wenig andere Möglichkeiten, als sich auf das Testat von WirtschaftsprüferInnen zu verlassen. Aber nicht nur sie, auch die Banken vertrauen auf das Gütesiegel einer testierten Bilanz. Wenn der „Kipppunkt“ überschritten ist, wird es für AktionärInnen und GläubigerInnen des betroffenen Unternehmens folglich brenzlig. Auch ein uneingeschränktes Testat ist dann mit großer Wahrscheinlichkeit nichts mehr wert.
Was kann die Politik tun, um zu verhindern, dass Wirtschaftsprüfungsgesellschaften an den „Kipppunkt“ kommen? Die Antwort darauf ist recht einfach: Das Mandat für WirtschaftsprüferInnen muss zeitlich begrenzt werden. Fünf Jahre Prüftätigkeit bei einem Unternehmen sind genug. Der Anreiz wird dann zumindest kleiner, gegenüber den Mandanten übergroße Flexibilität zu zeigen, um im Gegenzug vielleicht an einen großen Beratungsauftrag heranzukommen. Bei einer gesetzlichen Trennung von Prüf- und Beratungsgeschäft würde dieser Anreiz gänzlich verschwinden.
Dieser Text ist in einer längeren Version am 27. April 2021 online bei „Springer Professional“ erschienen.
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-18-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/234445