Nachricht vom 4. November 2013
Gastbeitrag von Karl Brenke und Gert G. Wagner, veröffentlicht unter dem Titel "Kontrolle ist wichtig" in der Süddeutschen Zeitung vom 4. November 2013.
Nach den Ankündigungen zu den derzeitigen Koalitionsvereinbarungen zeichnet sich ab, dass es bald auch in Deutschland einen flächendeckenden Mindestlohn geben wird – möglicherweise in Höhe von 8,50 Euro je Stunde, wie von der SPD verlangt. Lange Zeit waren staatliche Eingriffe in die Lohnfindung kein Thema für die Tarifpartner. Mit der Ausbreitung des sogenannten Niedriglohnsektors mehrten sich auch in den Gewerkschaften die Stimmen, die nach staatlich festgelegten Lohnuntergrenzen verlangten.
Was war geschehen? Die Beschäftigungsstruktur hat sich weg von den größeren Unternehmenseinheiten der Industrie immer mehr hin zum Dienstleistungssektor mit seiner eher kleinbetrieblichen Struktur verschoben, in dem traditionell der gewerkschaftliche Organisationsgrad und Einfluss eher gering ist. Hinzu kamen Arbeitsmarktreformen,wodurch beispielsweise das enorme Wachstum der Minijobs gefördert wurde.
Im Zuge dieser Entwicklung ist die Zahl der Mitglieder der DGB-Gewerkschaften von 9,8 Millionen im Jahr 1994 auf 4,1 Millionen im vergangenen Jahr zurückgegangen. Und bei den Arbeitgebern gab es eine erhebliche Abkehr von der Tarifbindung. Dabei schlugen nicht so sehr Austritte aus den Arbeitgeberverbänden zu Buche, vielmehr traten viele der neu gegründeten Unternehmen insbesondere im Dienstleistungssektor erst gar nicht einem tariffähigen Verband bei.
Entsprechend unterliegt derzeit nur noch etwa die Hälfte aller Beschäftigten einer kollektiven Tarifvereinbarung, während es nach Angeben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Mitte der Neunziger Jahre noch etwa zwei Drittel waren. Die Forderung nach einem Mindestlohn ist daher vor allem die zwangsläufige Folge der erodierenden Tarifbindung und Ausdruck der geschwächten Verhandlungsposition der Gewerkschaften.
Nur ein Drittel der Niedrigverdiener kann sich an einen Betriebsrat wenden
Einen Mindestlohn per Gesetz einzuführen, ist das eine. Einen Mindestlohn in die Praxis umzusetzen, das andere. Es gehört nicht allzu viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass nicht wenige Arbeitgeber versuchen werden, eine Mindestlohnregulierung zu unterlaufen. Manche fürchten vielleicht, dass sie wegen des zu zahlenden Mindestlohnes ihre Preise anheben müssen und dann die Kunden weg bleiben. Andere wollen nicht auf Gewinne verzichten.
Wie auch immer: Wer sich nicht an die Regeln hält, verschafft sich unzulässige Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz. Eine Möglichkeit, die Mindestlohn- Regulierungen zu umgehen, besteht darin, unbezahlte Mehrarbeit leisten zulassen.
Nach den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) gab es im Jahr 2011 von denjenigen Arbeitnehmern, die einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro brutto erhalten, etwa eine Million, bei denen die Überstunden nicht oder nur teilweise durch Geld oder Freizeit ausgeglichen werden. Eine weitere Möglichkeit wäre, bisher abhängige in selbständige Beschäftigung umzuwandeln und den Arbeitsvertrag in einen Werkvertrag umzutauschen. Denkbar wäre auch eine vermehrte Beschäftigung in Form der für die Arbeitgeber kostengünstigeren Minijobs – was nicht nur zu Lasten der Sozialversicherungen ginge, sondern für langjährige Mini-Jobber auch Altersarmut bedeutet.
Völlig unklar ist im Moment, wie bei einer Mindestlohn-Gesetzgebung mit solchen Arbeitsverhältnissen umzugehen ist, bei denen es überhaupt keine Vereinbarungen über die Dauer der Arbeitszeit gibt, sondern faktisch ein Stücklohn gezahlt wird. Einen entsprechenden Arbeitsvertrag hat etwa eine weitere Million der gering entlohnten Arbeitnehmer. Lohnvereinbarungen auf Stücklohnbasis sind keineswegs immer willkürlich, sondern ökonomisch durchaus rational und sozial gerecht. So wird in der Regel der Zeitungsausträger nach der Zahl der verteilten Zeitungen bezahlt, und der angestellte Taxifahrer erhält einen Anteil vom Umsatz.
Will man einen Mindestlohn, wird es nicht damit getan sein, die vom Bundestag beschlossene Regelung im Bundesgesetzblatt abzudrucken. Vielmehr bedarf es einer wirksamen Vor-Ort-Kontrolle, damit auch die gesetzlichen Vorgaben eingehalten werden. Auf den einzelnen Arbeitnehmer kann man dabei weniger bauen, denn viele werden sich nicht trauen, zu einer Beschwerdestelle zu laufen, um ihren Arbeitgeber anzuschwärzen. Solche Fälle wird es geben, wenn die Stimmung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ohnehin schon stark angespannt ist. Das ist aber in vielen Betrieben nicht der Fall. So blieben die bereits möglichen Klagen gegen die Sittenwidrigkeit von Löhnen nur singuläre Ereignisse.
Eine starke Position zur Durchsetzung von Mindestlöhnen hat eine betriebliche Interessensvertretung der Arbeitnehmer. Allerdings ist den SOEP-Daten zufolge lediglich knapp ein Drittel derjenigen Arbeitnehmer, die weniger als 8,50 Euro je Stunde verdienen, in einem Betrieb tätig, der einen Betriebsrat hat. Von den Arbeitnehmern, die mehr verdienen, hatten zwei Drittel eine solche Interessensvertretung.
In diesem Befund spiegelt sich wider, dass Geringverdiener zu einem großen Teil in Kleinbetrieben beschäftigt sind, in denen traditionell der gewerkschaftliche Einfluss gering ist. Geringe Entlohnung und das Fehlen einer betrieblichen Interessensvertretung der Arbeitnehmer sind die zwei Seiten einer Medaille. An dieser Stelle taucht wieder das Problem auf, das für die Forderungen nach einem gesetzlichen Mindestlohn der Ausgangspunkt war: geschwächte Gewerkschaften.
Eine Überprüfung der Arbeitszeit muss sein. Sonst hat die Stunde plötzlich 70 oder mehr Minuten
Wohl oder übel muss daher der Staat für eine effektive Kontrolle und Umsetzung von Mindestlohnregulierungen sorgen. Das wird gewiss nicht einfach werden und einen erheblichen Aufwand nach sich ziehen. Damit stellt sich die Frage, welche staatliche Stelle damit beauftragt wird: eine bereits bestehende Institution oder eine noch zu schaffende Behörde? Vor allem bieten sich Manipulationen bei den Arbeitszeiten an, um Mindestlohnregulierungen zu umgehen. Damit nicht bei der Abrechnung der Löhne Stunden angesetzt werden, die 70 oder mehr Minuten dauern, ist – wie das Beispiel etwa der USA lehrt – eine genaue und Überprüfungen standhaltende Dokumentation der geleisteten Arbeitszeiten auch in Kleinbetrieben zwingend erforderlich. Auch für die Arbeitgeber entsteht dadurch ein zusätzlicher Aufwand – und zwar nicht nur für diejenigen, die derzeit geringe Löhne zahlen, sondern grundsätzlich für alle.
Wenn die Politik einen Mindestlohn wirksam umsetzen will, muss sie Rahmenbedingungen schaffen, damit die entsprechenden Regulierungen auch tatsächlich eingehalten werden. Unterlässt die Politik das, treten die Medien als Kontrollinstanz auf, denn es wird gewiss nicht an kreativen Versuchen mangeln, einen Mindestlohn zu umgehen.
Dieser Gastbeitrag wird mit freundlicher Genehmigung von der Süddeutschen Zeitung auf www.diw.de veröffentlicht.
In der Fachzeitschrift Wirtschaftsdienst finden Sie die Langfassung des Beitrags der Autoren.