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Keine Befristung ohne qualifizierten Grund

Medienbeitrag vom 15. April 2015

Dieser Text von Cornelius Richter und Gert G. Wagner erschien erstmal als Gastbeitrag in der FAZ vom 15. April 2015.

Die Diskussion um Befristungen im Wissenschaftssystem ist wieder aufgeflammt. Einige Vorschläge zur Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, das die Grundlage für die meisten befristeten Arbeitsverhältnisse bildet, haben der Debatte eine neue Richtung gegeben. Die Bündnisgrünen haben einen eher zurückhaltenden, aber gut praktikablen, die GEW einen handwerklich fragwürdigen, dafür aber politisch ambitionierten Entwurf vorgelegt. Rückenwind für grundsätzliche Reformen kommt aus unterschiedlichen politischen Lagern, nicht zuletzt von der zuständigen Bundesministerin selbst. CDU und SPD haben jüngst ihren Willen erklärt, die Reform mit einem Hochschulpakt für den wissenschaftlichen “Nachwuchs” zu begleiten.

Wie kam es zu der geläufigen Formel der “prekären Arbeitsverhältnisse” im Wissenschaftssystem? In Deutschland wird an Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstituten im internationalen Vergleich mit einem ungewöhnlich hohen Anteil an Zeitverträgen für den “Mittelbau” gearbeitet. Mit Mittelbau sind jene promovierten Leistungsträger unterhalb der Professorenebene gemeint, die heutzutage “Postdocs” genannt werden und die noch einige Jahre in wissenschaftlichen Institutionen verbringen können, im Regelfall jedoch nicht ihr ganzes akademisches Leben. Nachdem im Zuge des Ausbaus des deutschen Wissenschaftssystems in den sechziger bis achtziger Jahren rasch sehr viele Dauerstellen geschaffen worden waren - für Professoren und für den Mittelbau -, wurde danach radikal auf die Bremse getreten und kaum noch ein Zeitvertrag für den Mittelbau entfristet. Begründet wurde dies mit Flexibilitätsdefiziten durch den starren Kündigungsschutz.

Ein Hilfsargument war die angeblich größere Flexibilität des als vorbildlich geltenden angelsächsischen Hochschulsystems, in dem bereits damals Drittmittel eine größere Rolle spielten. Auch in öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen ist die Zeit unbefristeter Verträge für Postdocs seit der Jahrtausendwende weitgehend vorbei. Mancherorts sind mehr als neunzig Prozent der Wissenschaftler befristet tätig.

In den Universitäten sind Befristungen oft auch dem Geldmangel geschuldet. Bei den außeruniversitären Einrichtungen, die etwa alle sechs Jahre evaluiert werden, ist dagegen der Evaluationsdruck dafür verantwortlich. Um bei Evaluationen möglichst gut dazustehen, muss immer wieder junger und ehrgeiziger Nachwuchs her. Die Befristung selbst wird zum Evaluationskriterium, was die bekannten (vorgeblichen Selbst-)Ausbeutungseffekte nach sich zieht. Mittlerweile ist diese Situation sogar selbst zum Forschungsgegenstand geworden.

Ein realistisches Kriterium: der Sachgrund Qualifizierung

Wissenschaftspolitisch wurde diese bedenkliche Entwicklung durch die zunehmende “Drittmittelfinanzierung” befördert. Der Wettbewerb um knappe Mittel und die Ungewissheit über die künftige Finanzierung sollten ein zusätzlicher Leistungsansporn sein. Mehr Geld und mehr Stellen für das Wissenschaftssystem wären durchaus eine vernünftige Reaktion auf die Situation. Dann wären mehr Entfristungen und Dauerstellen ohne die Gefahr von Überalterung und Verkrustung möglich. Dies ist allerdings ein unrealistisches Szenario. Wie kann man aber die Situation verbessern, ohne deutlich mehr Geld in das Wissenschaftssystem fließen zu lassen?

Die Befristungsregeln des deutschen Wissenschaftssystems vertragen sich nicht mit einer verantwortungsvollen Personalpolitik. Das ist fast schon ein Gemeinplatz, und so gehen seit einiger Zeit manche Einrichtungen dazu über, sich bei der Wahl der gesetzlich eingeräumten Befristungsmöglichkeiten selbst zu beschränken. Eine Flexibilität und Fürsorgepflicht verbindende Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes könnte gelingen, wenn man Befristungen, die der Qualifizierung dienen, nur noch auf der Grundlage eines gesetzlich normierten Sachgrunds “Qualifizierung” erlauben würde.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat schon vor längerer Zeit entschieden, dass eine rein formale Vorschrift, die aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge nicht mit objektiven, sich aus der Besonderheit der betreffenden Tätigkeit ergebenden Faktoren rechtfertigt, die Gefahr des Missbrauchs birgt und mit den europarechtlichen Vorgaben nicht vereinbar sei. Zwar können allgemeine Überlegungen, insbesondere sozialpolitischer Art, auch bereichsspezifische Ausnahmen begründen. Ob dies aber in dem Umfang gilt, in dem das deutsche Wissenschaftszeitvertragsgesetz es derzeit auf der Grundlage einer rein formalen Betrachtungsweise erlaubt, ist diskussionswürdig.

Die Einführung eines Sachgrunds “Qualifizierung” würde inhaltliche statt formale Anforderungen an Befristungen stellen. Das würde die Beweislast gegenüber der jetzigen Rechtslage umkehren, etwa wenn es um die Weiterbildung geht: Der Arbeitgeber im Wissenschaftssystem müsste das tun, was jeder verantwortungsvolle Arbeitgeber im Wissenschaftssystem ohnehin tun sollte, nämlich die befristeten Arbeitsverhältnisse mit gesicherten Plänen und Prognosen für die Qualifizierung seiner Mitarbeiter hinterlegen. Beispielsweise durch eine gemeinsame Planung der weiteren Tätigkeit auf das Karriereziel Professur hin oder auf Tätigkeiten außerhalb der Wissenschaft. Die Bedeutung von sorgfältig geführten Mitarbeitergesprächen, eventuell mit ausdrücklich dokumentierten Zielvereinbarungen, würde dadurch steigen. Mit einem Sachgrund “Qualifizierung” würden derartige Verabredungen faktisch erzwungen. Die Vereinbarungen selbst sollten hingegen nicht im Detail gesetzlich geregelt werden, und sei es nur deswegen, weil der Gesetzgeber nicht in der Lage ist, alle denkbaren Fälle zu antizipieren.

Sonderbestimmungen für den wissenschaftlichen Bereich

Bei nichtpromovierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geschieht dies zunehmend durch Abschluss von Promotionsvereinbarungen, gegebenenfalls auch durch Aufnahmen in Graduiertenkollegs. Bei Postdocs gibt es allenfalls erste Ansätze.

Was hieße das in der Praxis? Befristungen würden im Wissenschaftsbetrieb nicht mehr pauschal mit einem angeblich notwendigerweise als Durchlauferhitzer konstruierten System gerechtfertigt. Sie müssten vielmehr - in den Worten des EuGH - mit “den Besonderheiten der betreffenden Tätigkeit und den Bedingungen ihrer Ausführung” im Einzelfall begründet werden. Dies würde insbesondere der Abgrenzung befristeter Tätigkeiten von Daueraufgaben dienen. Der Arbeitgeber stünde in der Pflicht, sich Gedanken zu machen, welche seiner Aufgaben eigentlich auf Dauer anfallen, und er müsste dies begründen können und damit überprüfbar machen.

Eine qualifikationsbezogene Befristung würde sich auch besser in das sonstige Befristungsrecht einfügen. Sonderbestimmungen für den wissenschaftlichen Bereich, wie sie - in vielen Formulierungen nachbesserungsbedürftig - im derzeitigen Gesetz stehen, wären natürlich trotzdem unabdingbar: Verlängerungen aus familiären Gründen, wegen des Engagements in Mitarbeitervertretungen und anderes mehr. Eine Sonderregel brauchte es für die Wissenschaft aber auf jeden Fall. Es müsste gefordert werden, dass nicht nur der Befristungsgrund “Qualifizierung” gegeben sein muss, auch die Dauer der Verträge muss dem spezifischen Grund entsprechen. In einer Disziplin, in der eine Promotion normalerweise drei Jahre und eine Postdoc-Phase typischerweise fünf Jahre dauert, bedürfen kürzere Verträge in der Regel einer gesonderten Rechtfertigung. Kurz laufende Verträge, die nicht beispielsweise einer Übergangsfinanzierung im Interesse der Beschäftigten dienen, verbieten sich dann.

Offen bliebe bei dieser Lösung, wie mit Projektbefristungen umzugehen ist. Es spricht einiges dafür, dass die meisten dieser Befristungen über das allgemeine Befristungsrecht gut lösbar sind. Klar ist: Wenn eine Änderung bei den Qualifizierungsbefristungen nicht zu einer Ausweitung der projektbezogenen Befristungen führen soll, müssen diese erheblich eingeschränkt werden. Wo es um Verlängerungen wegen Elternzeiten und Ähnliches geht, müssten akademische Institutionen angehalten oder verpflichtet werden, Mitarbeiter nicht deshalb schlechter zu behandeln, weil die Finanzierung der Stellen aus Drittmitteln stammt. Hier haben freilich auch die Drittmittelgeber, darunter einige Bundesministerien, noch in erheblichem Umfang Hausarbeiten zu machen. Dass das zuständige Ministerium auf der einen Seite eine Reform der Qualifizierungsbefristungen anstrebt, bei eigener Projektförderung hingegen familiäre Belange nicht systematisch beachtet, unterstreicht die Notwendigkeit der Diskussion.

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