Pressemitteilung vom 21. Juli 2010
DIW-Studie: Piraterie in Somalia dient vielen Interessen
Der internationale Militäreinsatz gegen die Piraterie vor der Küste Somalias hat keine spürbare Abschreckungswirkung. Die Zahl der Piratenangriffe hat sich seit Beginn der Militäraktion sogar nahezu verdoppelt. Zugleich hat sich der Wirtschaftskreislauf der Piraterie so stabilisiert, dass er für die Beteiligten zu einem kalkulierbaren Geschäft geworden ist. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). „Die wichtigen Akteure in der Region haben ein Interesse am Fortbestehen der Piraterie, solange die Situation nicht eskaliert und die Lösegeldzahlungen im bisherigen Rahmen bleiben. Genau dazu hat aber der Marineeinsatz beigetragen“, sagte DIW-Expertin Anja Shortland.
Die DIW-Studie untersucht die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Piraterie am Horn von Afrika. Zentraler Befund der Berliner Ökonomen: Die größten Hindernisse für eine Bekämpfung der Piraterie liegen in den geschäftlichen Interessen der Beteiligten. „Die Piraterie ist nicht nur für die beteiligten Somalier ein gutes Geschäft“, sagte Anja Shortland bei der Vorstellung der Studie. „Die Versicherer zum Beispiel machen gute Gewinne und verlangen deshalb von den Schiffseignern keine Sicherheitsvorkehrungen, die Kaperungen schwieriger machen würden. Man darf nicht erwarten, dass die Versicherungen an dem Ast sägen, der Ihnen diesen Versicherungsmarkt möglich macht.“
Daran habe auch internationale Militäraktionen wie die EU-geführte Operation Atalanta unter Beteiligung der Bundesmarine nichts geändert. „Der internationale Marineeinsatz hat dazu beigetragen, dass sich der Kreislauf aus Angriffen, Kaperungen und Lösegeldzahlungen stabilisiert hat,“ sagte Anja Shortland, Autorin der Untersuchung und Dozentin an der britischen Brunel University. „Damit wird die Piraterie aber nicht nur für die Seeräuber sondern auch für Versicherungen und Schiffseigner besser kalkulierbar.“
Internationaler Marineeinsatz: Begrenzte Abschreckung
Sicherheitspatrouillen der Marine gibt es im Golf von Aden und vor der Küste Somalias seit August 2008. Hierzu gehören Schiffe im Rahmen der Operation Atalanta der Europäischen Union, die Operation Allied Protector und Operation Allied Provider der NATO sowie die Combined Task Force 150 unter Führung der USA und einzelne Schiffe weiterer Staaten.
Der langfristige Erfolg des Marineeinsatzes ist angesichts der hohen Erträge aus erfolgreicher Piraterie fraglich. Das International Maritime Bureau berichtete über 111 Angriffe im Jahr 2008 und einen Anstieg auf 217 Angriffe 2009. 2010 hat sich die Zahl der Angriffe auf hohem Niveau stabilisiert: In der ersten Jahreshälfte 2010 wurden 84 Angriffe gemeldet, 27 Schiffe wurden gekapert und 544 Geiseln verschleppt. Die Zahl der Angriffe im Golf von Aden ist allerdings deutlich gesunken, seit Marineschiffe die Piraten von ihren Zielen vertreiben, ihnen den Zugriff auf Ressourcen zur Reinvestition verwehren und vorhandene Ausstattung zerstören. Andererseits wurden 2010 im Somalibecken und dem Indischen Ozean mehr Angriffe als je zuvor gemeldet. „Wir sehen einen deutlichen Substitutionseffekt: Piraten suchen seit Februar 2009 ihre Beute vermehrt in der ungeschützten, freien See“, so Anja Shortland.
Gewinne werden reinvestiert: So funktioniert die Ökonomie der Piraterie
In einem Land, in dem das Pro-Kopf-Einkommen weniger als 300 US-Dollar pro Jahr beträgt, ist Piraterie ein attraktives Geschäft für arbeitslose junge Männer: Der geschätzte Gewinn für einen erfolgreichen Piraten liegt in der Größenordnung von 10 000 bis 15 000 US-Dollar pro Entführung. Hinzukommt: Illegale Giftmüllentsorgung und eine international in großen Stil betriebene Raubfischerei haben ein Übriges dazu beigetragen, den Fischern an der Küste Somalias die Lebensgrundlage zu entziehen.
Die Höhe der Lösegeldzahlungen bewegt sich Schätzungen zufolge in einer Höhe zwischen ein und fünf Millionen US-Dollar. Gewinne aus der Piraterie werden in technologische Verbesserungen investiert wie etwa schnelle Außenbordmotoren, bessere Telekommunikation, Automatikwaffen und Panzerabwehrraketen. Ein weiterer Teil des Gewinns fliesst über Unterverträge in den lokalen Wirtschaftskreislauf. Die Food and Agriculture Organisation der Vereinten Nationen berichtet über die Entwicklung ganz neuer Märkte in den Küstenregionen: Ein wichtiger Hinweis darauf, dass viele Haushalte direkt oder indirekt von der Piraterie leben.
Ein gescheiterter Staat mit funktionierender Küstenwache?
Die DIW-Expertin sprach sich trotz der Zahl der Angriffe gegen eine Ausweitung des internationalen Militäreinsatzes aus. „Dies würde das Problem nur weiter verlagern und an den Grundlagen der Piraterie nichts ändern.“ Die einzige Hoffnung bestehe in der Schaffung einer somalischen Küstenwache.
Doch wie soll ausgerechnet eine Küstenwache in einem Land funktionieren, in dem es seit rund 20 Jahren keine funktionierenden staatlichen Einrichtungen mehr gibt? Dazu Anja Shortland: „Die internationale Staatengemeinschaft müsste die Küstenwache bezahlen und die lokale Wirtschaft unterstützen. Es geht darum, eine Situation zu schaffen, in der die Somalier auch ohne Piraterie Geld verdienen und ihre Küste gegen Raubfischerei schützen können.“
Weitere Informationen:
The Business of Piracy in Somalia. Von Anja Shortland, Sarah Percy. DIW Discussion Papers Nr. 1033 (PDF, 336.54 KB)