"Deutschland lebt von der Substanz"

Interview vom 24. Juni 2013

DIW-Präsident Marcel Fratzscher fordert stärkere öffentliche und private Investitionen: Pro Jahr müsse Deutschland bis zu 75 Milliarden Euro mehr ausgeben. Im Interview erklärt der Ökonom, wie er das finanzieren will und wie Deutschland damit den europäischen Krisenländern helfen würde.

Interview von Christopher Krämer (manager magazin online)

mm: Herr Fratzscher, Sie monieren, dass die deutsche Investitionsquote viel zu niedrig ist. Sie sprechen davon, dass sich seit 1999 ein Investitionsrückstand von einer Billion Euro aufgebaut hat. Zehrt Deutschland von der Substanz?

Marcel Fratzscher:
Ja, Deutschland lebt von seiner Substanz. Investitionen in Deutschland weisen eine Lücke von knapp drei Prozent der Wirtschaftsleistung auf, das sind jährlich zwischen 75 und 80 Milliarden Euro. Das hat ganz konkrete Folgen, zum Beispiel für das Nettovermögen des Staates. Das lag im Jahr 1999 noch bei rund 500 Milliarden Euro und ist heute auf praktisch Null gesunken. Dieses Vermögen steht nicht mehr zur Verfügung für Unternehmen und private Haushalte, und auch nicht für künftige Generationen.

mm: Welche Folgen hat das für das Wachstum?


Fratzscher: Wenn es uns gelingen würde, diese Investitionslücke zu schließen, dann würde das Potenzialwachstum von heute etwa 1 Prozent auf 1,6 Prozent im Jahr 2017 steigen. Dies hätte vor allem auch mehr Beschäftigung und stärkere Lohnanstiege zur Folge. Gerade in diesem zweiten Bereich war die Entwicklung in den letzten fünfzehn Jahren sehr schwach. Es gibt kaum ein Land in Europa, das so geringe reale Lohnanstiege gehabt hat wie Deutschland. ein großer Teil der deutschen Arbeitnehmer hat heute real keine höheren Löhne als vor 15 Jahren.

mm: Sie sprechen von einem Investitionsbedarf von rund 75 Milliarden Euro jährlich. Wie soll das finanziert werden?

Fratzscher: Bei dieser Zahl geht es sowohl um öffentliche als auch private Investitionen. Unsere neue Studie betont drei Bereiche als besonders wichtig: Verkehrsinfrastruktur, Bildung und Energie. Bei den ersten beiden geht es vor allem um staatliche Investitionen, bei der Energie um private. Der Staat hat bereits im letzten Jahr einen kleinen Überschuss erwirtschaftet, und das trotz eines sehr schwachen Wachstums. Unsere Berechungen zeigen, dass die öffentlichen Haushalte bis 2017 einen Überschuss von knapp 1 Prozent der Wirtschaftsleistung erwirtschaften werden. Das sind knapp 30 Milliarden, die dann pro Jahr bereitstehen. Diese Überschüsse reichen aus, um die nötigen staatlichen Investitionen in Bildung und die Verkehrsinfrastruktur zu finanzieren. Neue Schulden wären für ein solches Investitionsprogramm nicht notwendig.

mm: Müsste Deutschland sich nicht stärker darauf konzentrieren, die Haushalte zu konsolidieren?

Fratzscher: Absolut, der Schuldenabbau ist sehr wichtig. Wir zeigen in unserer Studie aber auch, dass sich diese beiden Ziele - also fiskalische Konsolidierung und stärkere Investitionen - nicht gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil: Wenn es uns gelingt durch höhere Investitionen das Potentialwachstum und damit Beschäftigung und die Einkommen zu stärken, dann sorgt das auch für höhere Steuereinnahmen und stärkt die Fähigkeit des Staates, sich zu konsolidieren.

mm: Gibt es auf der anderen Seite auch Bereiche, in denen der Staat weniger Geld ausgeben sollte?

Fratzscher: Es geht nicht primär darum, weniger Geld auszugeben. Die Sozialausgaben sind ein sehr wichtiger Teil der Staatsausgaben, das hinterfrage ich gar nicht. Sondern es geht um die Frage: Wie können wir den fiskalischen Spielraum in den nächsten Jahren am besten nutzen? Dann gibt es zwei Antworten: Entweder für mehr Konsum und Transfers, oder für mehr Investitionen. Das letztere halte ich für sinnvoller. Die Priorität des Staates sollte in erster Linie auf Investitionen liegen, nicht auf Konsum und fiskalischen Transfers. Denn die von uns vorgeschlagenen Investitionen sind von fundamentaler Bedeutung, um Wohlstand in Deutschland auch langfristig zu sichern.

mm: Hunderte von Milliarden Euro haben die Deutschen in den letzten Jahren im Ausland investiert - oft erfolglos, wie Sie kritisieren. Jeder Euro kann aber nur einmal investiert werden. Wie wollen Sie diese Entwicklung umkehren?


Fratzscher: Wir müssen uns bewusst machen, dass sehr attraktive Renditen in Deutschland zu erzielen sind. In der Vergangenheit sind viele Investitionen im Ausland in den Sand gesetzt worden. Wir zeigen, dass seit 1999 private Haushalte und Unternehmen durch solche Investitionen etwa 400 Milliarden Euro verloren haben. Zudem müssen wir in Deutschland Rahmenbedingungen setzen, dass Investitionen wieder attraktiver werden. Im Bereich der Energiewende heißt das beispielsweise: Unternehmen, die hier etwa in den Netzausbau investieren wollen, brauchen verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen.

mm: Sie nennen die Verkehrsinfrastruktur als einen der Bereiche, in denen Investitionen besonders nötig sind. Die Investitionen seien auch ein Beitrag, um den europäischen Nachbarn zu helfen. Inwiefern würden mehr Autobahnen, ein besseres deutsches Schienennetz und weniger Schlaglöcher europäischen Krisenstaaten helfen?

Fratzscher:
Die Investitionen haben kurzfristige und auch langfristige Effekte. Investitionen schaffen mehr Nachfrage und sorgen so für mehr Beschäftigung und Lohnanstiege in Deutschland. Dieser Wachstumsimpuls wird sich auch auf die europäischen Nachbarn auswirken: Zum Beispiel durch eine stärkere Nachfrage nach griechischen oder portugiesischen Produkten. Deutschland macht etwa ein Drittel der europäischen Wirtschaftsleistung aus und ist eine sehr offene Volkswirtschaft. Langfristig würden die Nachbarn auch profitieren, wenn Deutschland stärker wächst und deshalb mehr ausländische Produkte nachfragen kann.

mm: Wenn man sich beispielsweise das Wahlprogramm der Union anschaut, ist dort von anderen Ausgaben die Rede, beispielsweise höheren Mütterrenten und mehr Kindergeld. Bei der SPD sieht es ähnlich aus, auch ist die Rede von Steuererhöhungen. Folgt man Ihnen, müsste man sagen: Falsche Politik und Geldverschwendung. Richtig?

Fratzscher: Ich würde das nicht als Geldverschwendung bezeichnen. Es ist eine soziale Frage, welchen Bevölkerungsgruppen man helfen möchte. Daran übe ich keine Kritik. Es ist eine politische Frage, wie Verteilung organisiert werden soll. Wir dürfen aber nicht vergessen, die Balance zu halten zwischen Konsum heute und Investitionen in unsere Zukunft. Investieren wir weiter so schwach wie bisher, dann leben wir von der Substanz. Das heißt auch, künftigen Generationen weniger zu hinterlassen und ihre Chancen auf Wohlstand zu reduzieren.

mm: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Ihr Investitionsappell in Zeiten des Wahlkampfs auf fruchtbaren Boden fällt?

Fratzscher:
Das Theme der Investitionen ist von großer Bedeutung für die deutsche Wirtschaftspolitik. Wir sehen, dass alle Parteien das Thema Investitionen aufgreifen. Wir dürfen dabei nicht abstrakt bleiben, sondern müssen endlich konkreter diskutieren: Wo brauchen wir Investitionen? Wieviel wird benötigt, und wie sehen die Effekte aus? Welche Ausgaben sind sinnvoll, und welche weniger? Diese Frage nach den Investitionen in unsere Zukunft ist zentral, und diese Debatte wollen wir mitgestalten und stärken.

Das Interview wird mit freundlicher Genehmigung des manager magazin online auf der Website www.diw.de veröffentlicht.

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