20. Mai 2014, Michael Neumann mneumann@diw.de
Über die Differenzierung von Sozialversicherungsbeiträgen in Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge gibt es in Deutschland immer wieder Diskussionen, welche in den letzten Jahren sogar zu einer Aufweichung des Prinzips einer paritätischen Aufteilung geführt haben. Den meisten ökonomischen Theorien zufolge sollte diese formelle Aufteilung der Beitragslast allerdings keine Rolle spielen. Empirische Studien haben versucht, diese Hypothese zu testen und die eigentliche ökonomische Lastenverteilung zu berechnen. Dieser DIW Roundup gibt hierzu einen Überblick. Obwohl die empirische Evidenz uneinig ist, finden sich Hinweise, dass sich - zumindest auf dem europäischen Kontinent - Arbeitgeber an der ökonomischen Last des Sozialversicherungssystems beteiligen. Der Einfluss der genauen formellen Aufteilung der Beitragslast zwischen Arbeitgebern und -nehmern scheint allerdings eher moderat zu sein.
Beiträge zur Sozialversicherung sind in Deutschland, wie auch in vielen anderen Ländern, in Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge aufgeteilt. In den letzten Jahren wurde begonnen, von der bis dahin geltenden paritätischen Aufteilung abzuweichen. Seit 2005 werden beispielsweise 0,9 Prozentpunkte des gesetzlichen Krankenversicherungsbeitrags ausschließlich vom Arbeitnehmer bezahlt. In 2011 wurde außerdem der Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung festgeschrieben, sodass künftige Kostensteigerungen vom Arbeitnehmeranteil gedeckt werden müssen. Während manche diese Entwicklung kritisieren und insbesondere die Fairness einer paritätischen Aufteilung der Beiträge hervorheben, versprechen sich die Befürworter einen positiven Effekt auf die Beschäftigung.
In dieser Diskussion wird allerdings häufig das Phänomen der ökonomischen Inzidenz von Steuern und Abgaben ignoriert. Mit diesem Begriff beschreiben Ökonomen, wer die eigentliche Last von Steuern oder Abgaben trägt. Und dies ist nicht unbedingt immer die Partei, die die Abgaben formell an den Staat abführt. So könnten beispielsweise Arbeitgeber einen Anstieg ihres Anteils an Sozialversicherungsbeiträgen auf ihre Arbeitnehmer überwälzen, indem sie die Bruttolöhne senken oder, realistischer, den nächsten Lohnanstieg geringer ausfallen lassen. Folgt man den meisten ökonomischen Theorien ist es sogar gänzlich irrelevant, ob formell Arbeitgeber oder Arbeitnehmer Sozialversicherungsbeiträge tragen. Da sich der Arbeitgeber ausschließlich für die gesamten Arbeitskosten interessiere und der Arbeitnehmer für den Nettolohn, sei nur die absolute Differenz zwischen beiden Größen, der sogenannte „Steuerkeil", relevant für den resultierenden Bruttolohn. Wie die Last dieses Steuerkeils letztendlich aufgeteilt wird, unterscheidet sich je nach zugrunde liegender ökonomischer Theorie und kann von mehreren Faktoren abhängen. Weit verbreitet ist beispielsweise die Überzeugung, dass die Marktseite, die sensibler auf Lohnveränderungen reagiert, einen kleineren Anteil der Beitragslast trägt. Da zudem häufig angenommen wird, dass Arbeitgeber die Nachfrage nach Beschäftigten flexibler anpassen können als Arbeitnehmer ihre angebotene Arbeitskraft, folgern viele Ökonomen, dass Arbeitnehmer einen überproportional großen Anteil der Beitragslast tragen. Wird letzteren allerdings mehr Verhandlungsmacht bei Lohnverhandlungen zugestanden, zum Beispiel durch die Berücksichtigung von starken Gewerkschaften, ergibt sich, dass auch Arbeitgeber einen signifikanten Teil der Beitragslast tragen könnten. Eine hierbei nicht berücksichtigte Möglichkeit zur Überwälzung der Beitragslast stellen zudem Preiserhöhungen dar, welche nicht nur Arbeitgeber und -nehmer tragen, sondern auch andere Konsumenten wie Rentner und Arbeitslose.
Da die ökonomische Theorie alleine keine eindeutigen Antworten liefert, haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten viele empirische Studien mit der ökonomischen Inzidenz von Sozialversicherungsbeiträgen befasst. Es sollten vor allem folgende zwei Fragen beantwortet werden: Wer trägt die ökonomische Last von Sozialversicherungsbeiträgen? Und wird diese von der gesetzlich vorgeschriebenen Aufteilung beeinflusst?
Die empirische Herausforderung bei der Beantwortung dieser Fragen besteht darin, herauszufinden, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen der Höhe der Sozialversicherungsbeiträge beziehungsweise deren einzelnen Komponenten und dem Brutto-Stundenlohn existiert. Dies bedeutet auch, dass in den meisten Studien eine eher enge Definition von ökonomischer Inzidenz zur Anwendung kommt. Neben dem Stundenlohn könnten Sozialversicherungsbeiträge natürlich auch Einfluss auf die Beschäftigung haben, da eine Erhöhung der Beiträge dazu führen könnte, dass Arbeitnehmer weniger Arbeitszeit anbieten und Arbeitgeber weniger nachfragen. Obwohl die Wohlfahrtskonsequenzen solcher Beschäftigungseffekte ebenfalls als ökonomische Inzidenz verstanden werden können, werden sie in der besprochenen Literatur nicht berücksichtigt. Im Gegensatz dazu, wird das Überwälzen durch höhere Preise von einigen Studien versucht zu berücksichtigen, indem Real- anstatt Nominallöhne analysiert werden.
Im Folgenden soll ein Überblick über die empirische Evidenz zur Beantwortung der oben genannten Fragen gegeben werden. Basierend darauf werden mögliche Implikationen für die Politik diskutiert. Obwohl oder gerade weil sehr viele empirische Studien durchgeführt wurden, fällt es schwer eindeutige Schlussfolgerungen zu ziehen. Besonders anschaulich zeigt dies eine Meta-Studie von Melguizo und González-Páramo (2012), die die Ergebnisse von 52 Studien zu ökonomischer Inzidenz von Lohnsteuern und Sozialversicherungsbeiträgen analysiert. Der durchschnittlich geschätzte Anteil, der von Arbeitnehmern getragen wird, beträgt demnach 66 %. Allerdings variieren die Schätzungen sehr stark zwischen den einzelnen Studien, was eine Standardabweichung von 51 Prozentpunkten verdeutlicht. Ein Grund für diese große Variabilität ist wohl, dass die Literatur von Länder-spezifischen, mikroökonometrischen Studien dominiert wird und die ökonomische Inzidenz zwischen Ländern nicht homogen zu sein scheint. Da es für Deutschland leider kaum spezifische Evidenz zur ökonomischen Inzidenz von Sozialversicherungsbeiträgen gibt, greife ich im Folgenden vor allem auf Studien zurück, die basierend auf makroökonomischen Datensätzen die zeitliche Entwicklung von Löhnen und Sozialversicherungsbeiträgen zwischen verschiedenen Ländern vergleichen.
Der bekannteste Vertreter dieser länderübergreifenden Literatur ist eine viel zitierte Studie der OECD (1990), welche ergab, dass Arbeitnehmer die komplette ökonomische Last von Sozialversicherungsbeiträgen tragen. Da dieses Ergebnis allerdings auf vergleichbar wenigen Beobachtungen beruht, ist es wohl wenig überraschend, dass neuere Studien ein differenzierteres Bild zeichnen. Dies ist insbesondere auch der Fall, da ein spezifischer Vorteil länderübergreifender Studien ausgenutzt wird: die Möglichkeit zu untersuchen, welche Arbeitsmarktinstitutionen für die ökonomische Inzidenz besonders relevant sind.
Als wichtige Determinante wird übereinstimmend der Grad der Zentralisierung bei der Festlegung des Lohns identifiziert (siehe beispielsweise Alesina und Perotti (1997)). Demnach scheint es so, dass in Ländern mit einem wenig zentralisierten System, wie beispielsweise Großbritannien und den USA, Arbeitnehmer einen besonders großen Teil der ökonomischen Beitragslast tragen. Gleiches gilt auch für Länder in denen der Lohn stark zentralisiert festgelegt wird, wie insbesondere in den skandinavischen Ländern, wo sich Lohnverhandlungen oft auf die ganze Volkswirtschaft erstrecken. Deutschland wird, wie viele andere kontinentaleuropäische Länder auch, zwischen beiden Extremen eingeordnet, da die meisten Lohnverhandlungen auf Ebene des Wirtschaftssektors stattfinden. In diesen Ländern scheinen sich die Arbeitgeber maßgeblich an der ökonomischen Last von Sozialversicherungsbeiträgen zu beteiligen.
Eine weitere Determinante für die ökonomische Inzidenz könnte der Grad der Verknüpfung zwischen Beiträgen und (späteren) Leistungen sein. Während in Deutschland ein höherer Lohn und damit höhere Beiträge zur Krankenversicherung in der Regel keine Verbesserung der Leistung bedeutet, führen höhere Beiträge zur Rentenversicherung unter anderem zu einem Anstieg des späteren Anspruchs an Altersrente. Arbeitnehmer könnten letztere deshalb als unfreiwilliges Sparen sehen und dadurch bereit sein mehr von der ökonomischen Last zu tragen als bei der Krankenversicherung oder der Einkommenssteuer (Summers, 1989). Leider gibt es dazu nur sehr wenig empirische Evidenz. Diese bestätigt allerdings die Hypothese, dass in Systemen, in denen die Beiträge direkter mit Leistungen verknüpft sind, Arbeitnehmer einen größeren Anteil der ökonomischen Beitragslast tragen (Ooghe et al., 2003).
Für die Politik ist natürlich insbesondere relevant, inwiefern die formelle Beitragslast die tatsächliche beeinflussen kann. Ein Grund, warum dies der Fall sein könnte, findet sich in der Rigidität von nominellen Löhnen. Insbesondere für bestehende Arbeitsverhältnisse wird häufig angenommen, dass nominelle Löhne nicht nach unten angepasst werden können. Eine Lohnsenkung als Reaktion auf eine Erhöhung von Sozialversicherungsbeiträgen wäre dann nur zeitversetzt möglich, indem zukünftige Lohnsteigerungen nicht oder nur in reduzierter Höhe durchgeführt werden sowie durch das Abschließen neuer Arbeitsverträge. Deshalb wird in manchen Studien zwischen einer kurzen und langen Frist unterschieden, um sowohl den Anpassungsprozess als auch die endgültige Lastenverteilung abbilden zu können. Interessant sind hier die Erkenntnisse von Arpaia und Carone (2004). Während die ökonomische Last von Arbeitnehmerbeiträgen eher von Arbeitnehmern getragen wird, gehen in der kurzen Frist Erhöhungen von Arbeitgeberbeiträgen mit statistisch signifikanten Erhöhungen der Arbeitskosten einher. Der Unterschied zwischen den Wirkungen beider Komponenten kann aber als eher moderat bezeichnet werden. In der langen Frist hingegen können die Autoren dann nicht mehr ausschließen, dass beide Komponenten die gleiche Wirkung erzielen. Die Autoren geben allerdings zu bedenken, dass der Anpassungsprozess sehr lange Zeit in Anspruch nehmen kann. Tyrväinen (1995) kommt zu vergleichbaren Ergebnissen.
Ein weiterer möglicher Grund für die Relevanz der formellen Beitragslast, der auch langfristige Wirkungen erklären kann, ist eher psychologischer Natur. Ein Laborexperiment ergab, dass Verhandlungsergebnisse über die Aufteilung eines Gewinns zwischen zwei Parteien davon abhängen, welche Seite eine Steuer formell abführen muss (Kerschbamer und Kirchsteiger, 2000). Die Erklärung der Autoren ist, dass die formelle Zahllast eine moralische Pflicht hervorrufen kann, auch den Großteil der ökonomischen Last zu tragen. Saez et al. (2012) argumentieren zudem, dass soziale Normen wie beispielsweise relative Lohngerechtigkeit auf Bruttolöhnen basieren könnten, weshalb diese auch eher Gegenstand von Lohnverhandlungen seien als die eigentlich ökonomisch relevanten Größen wie Nettolöhne beziehungsweise Arbeitskosten.
Betrachtet man die empirische Evidenz basierend auf länderübergreifenden Studien kann man wohl insbesondere zwei wichtige Implikationen für die Politik ableiten. Erstens scheinen sich – zumindest auf dem europäischen Kontinent – Arbeitgeber tatsächlich an der Finanzierung der Sozialversicherungssysteme zu beteiligen. Eine Erhöhung von Sozialversicherungsbeiträgen würde demnach nicht gänzlich über Lohnsenkungen auf den Arbeitnehmer überwälzt werden. Um dies allerdings aus wohlfahrtstheoretischer Sicht beurteilen zu können, müssten auch potentielle Beschäftigungseffekte oder Preissteigerungen berücksichtigt werden, die durch die Erhöhung der Arbeitskosten hervorgerufen werden könnten.
Zweitens gibt es Hinweise, dass eine Substitution zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen zwar durchaus eine gewisse Wirkung entfalten kann, diese aber eher moderat auszufallen scheint und auch nur in den ersten Jahren festzustellen ist. Da dieses Ergebnis nur auf sehr wenigen Studien beruht, sind allerdings weitere Forschungsarbeiten abzuwarten. Nichtsdestotrotz ist es ein Hinweis darauf, dass die Differenzierung zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen in der eingangs beschriebenen Diskussion überschätzt wird. Diese sollte sich demnach eher um die gesamte Höhe der gemeinsamen Beiträge drehen.
Alesina, A., und R. Perotti (1997): „The Welfare State and Competitiveness“, The American Economic Review, 87(5), 921-939.
Arpaia, A., und G. Carone (2004): „Do labour taxes (and their composition) affect wages in the short and the long run?“, Nr. 216. European Commission, Directorate-General for Economic and Financial Affairs.
Kerschbamer, R. und Georg Kirchsteiger: „Theoretically robust but empirically invalid? An experimental investigation into tax equivalence,” Economic Theory, 2000, 16 (3), 719–734.
Melguizo, Á., und J. M. González-Páramo (2012): „Who bears labour taxes and social contributions? A meta-analysis approach“, SERIEs, 1-25.
OECD (1990), "OECD Employment Output: Employer versus Employee Taxation: the Impact on Employment", Technical Report, OECD Publishing.
Ooghe, E., E. Schokkaert, und J. Flechet (2003): „The incidence of social security contributions: An empirical analysis", Empirica, 30(2), 81-106.
Saez, E., M. Matsaganis, und P. Tsakloglou (2012): „Earnings Determination and Taxes: Evidence From a Cohort-Based Payroll Tax Reform in Greece”, The Quarterly Journal of Economics, 2012, 127 (1), 493–533.
Summers, L. H. (1989): „Some Simple Economics of Mandated Benefits“, American Economic Review, 79(2), 177-183.
Tyrväinen, T. (1995): „Real wage resistance and unemployment: multivariate analysis of cointegrating relations in 10 OECD countries“, Discussion paper, OECD Publishing.
Themen: Rente und Vorsorge, Öffentliche Finanzen
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/111798