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Eurokrise: Austrittserwartungen aus dem Euroraum spiegeln sich in Zinsaufschlägen wider

DIW aktuell ; 13, 7 S.

Alexander Kriwoluzky, Christian Bayer, Chi Hyun Kim

2018

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Von Alexander Kriwoluzky, Christian Bayer und Chi Hyun Kim

Mit der schwierigen Regierungsbildung in Italien und dem auf Steuersenkungen ausgerichteten und europaskeptischen Programm der italienischen Koalition droht die schon überwunden geglaubte Krise im Euroraum wieder aufzulodern. Dies führt zu Risikoaufschlägen für italienische Staatsanleihen, die AnlegerInnen nicht nur für direkte Zahlungsausfälle, sondern auch für das Risiko, in einer anderen Währung als Euro ausgezahlt zu werden, verlangen. In der Krise 2010 bis 2014 konnte die Europäische Zentralbank (EZB) das Fortbestehen des Euroraums glaubhaft machen, damit die Risikoaufschläge deutlich verringern und so letztlich die Zinssätze angleichen. Die erneut aufkommenden Austrittserwartungen machen deutlich, in welch schwierigem wirtschaftspolitischem Umfeld sich die EZB noch immer bewegt, und zeigen den Reformbedarf im Euroraum.

Der Geist, den man so mühsam gebannt hatte, ist wieder aus der Flasche: Ein mögliches Auseinanderbrechen des Euroraums ist mit der neuen Regierung in Italien wieder in den Bereich des Möglichen gerückt. Die neue italienische Regierung will, so sie tatsächlich umsetzt, was sie ankündigt, die Einkommensteuer senken, eine geplante Mehrwertsteuererhöhung aussetzen, eine soziale Grundsicherung einführen und zur Rente nach 40 Beitragsjahren zurückkehren. Nur, wo soll das Geld für diese Maßnahmen herkommen? Der italienische Staat ist im Inland, aber auch im Ausland hoch verschuldet. Nachdem zunächst die Regierungsbildung in Italien über die Personalie des Wunschkandidaten für den Posten des Wirtschafts- und Finanzministers zu scheitern drohte, weil dieser den offenen Bruch der europäischen Verträge propagiert hatte, reagierten die Finanzmärkte mit Unruhe. Die Rendite italienischer Staatsanleihen mit zweijähriger Laufzeit stieg um etwa zwei Prozent (Abbildung 1). Die Rendite auf deutsche Staatsanleihen dagegen fiel leicht.

Abbildung 1:  Rendite italienischer Staatsanleihen
mit zweijähriger Laufzeit, in Prozent


Quelle: Datastream.

Währungsreform und folgende Abwertung als finanzpolitisches Mittel

Der Anstieg der Zinsen weist darauf hin, dass die InvestorInnen zunehmend davon ausgehen, dass Italien seine Schulden nicht zurückzahlen wird. Dabei spielen zwei unterschiedliche Formen des Zahlungsausfalles eine Rolle. Eine Möglichkeit ist die „direkte“ Insolvenz, wenn der italienische Staat seine Schulden schlicht nicht mehr vollständig bedienen würde, weil zum Beispiel das Parlament sich nicht auf einen Haushalt einigen kann. Um dieses Ausfallrisiko zu kompensieren, verlangen die KäuferInnen italienischer Staatspapiere einen höheren Zinssatz.

Es gibt aber auch die Möglichkeit eines „indirekten“ Zahlungsausfalls. In diesem Szenario würde Italien aus dem Euroraum austreten und alle seine Staatsschulden zum Kurs von 1:1 auf die neue Währung, eine „neue Lira“, umstellen. Diese Umstellung wäre unter anderem nötig, um den Bankensektor zu rekapitalisieren. Damit würde die italienische Notenbank Banca d’Italia wieder die alleinige Verantwortung für die Geldpolitik in Italien übernehmen und wäre dementsprechend auch nicht der Preisstabilität verpflichtet. Stattdessen wäre ihre Politik sehr wahrscheinlich von zwei Motiven geleitet: zum einem von der kurzfristigen Stimulation der italienischen Wirtschaft durch die Abwertung der neuen Währung, wodurch die Produkte italienischer Produzenten günstiger auf dem Weltmarkt werden würden. Zum anderen von dem Zulassen von Inflation, wodurch die Schulden der italienischen Regierung teilweise entwerten würden.

Da die AnlegerInnen genau das antizipieren, würde die neue Währung unmittelbar nach ihrer Einführung drastisch gegenüber dem Euro an Wert verlieren. Dadurch bekommen AnlegerInnen zwar den nominalen Betrag ihrer Forderungen voll erfüllt, der Gegenwert in Euro wäre aber deutlich geringer. Dieses Risiko wird als Konvertibilitätsrisiko bezeichnet. Seine Höhe wird von zwei Faktoren bestimmt: der erwarteten Wahrscheinlichkeit des Austritts und der Höhe der erwarteten Abwertung. Beide Komponenten erhöhen jeweils den Aufschlag, den AnlegerInnen verlangen, um für das Konvertibilitätsrisiko entschädigt zu werden. Die Rhetorik der italienischen Regierungsparteien im Wahlkampf legt nahe, dass es eine (wenn auch geringe) Wahrscheinlichkeit eines Austritts aus dem Euroraum durchaus gibt.

Hohes Konvertibilitätsrisiko in der Staatsschuldenkrise 2010 bis 2014

Ein starker Anstieg des Konvertibilitätsrisikos im Euroraum konnte erstmals im Zuge der Staatsschuldenkrise 2010 bis 2014 beobachtet werden. Das Konvertibilitätsrisiko für Italien, das der Finanzmarkt an jedem Tag zwischen 2010 und 2014 für das nächste Jahr veranschlagt hatte, stieg im Frühjahr 2010 an und beruhigte sich erst wieder Anfang 2014 (Abbildung 2). Errechnet wurde es, indem die Renditen von Anleihen, die nicht auf die neue Lira umgestellt werden könnten, mit den Renditen von Anleihen, die auf die neue Lira umgestellt werden könnten, verglichen wurden.[1] Die dargestellten Renditen berücksichtigen bereits die Kosten einer Versicherung gegen einen direkten Zahlungsausfall. Die Abbildung zeigt, dass der Zinsaufschlag für italienische Staatsanleihen mit einer Restlaufzeit von einem Jahr in der Spitze rund sieben Prozent betrug. Während der Staatsschuldenkrise waren die Aufschläge in der Regel positiv, das heißt die Finanzmärkte erwarteten, dass Italien durchaus aus dem Euroraum austreten könnte und dann die Währung abwerten würde.

Abbildung 2: Italien während der Eurokrise 2010 bis 2014
Renditeeinbußen von italienischen Anleihen mit Konvertibilitätsrisiko für das folgende Jahr gegenüber Anleihen ohne dieses Risiko in Prozent

Quelle: Bloomberg; Datastream; eigene Berechnungen.

Geldpolitik während der Krise: Die EZB bekämpfte das Konvertibilitätsrisiko

Dieser starke Anstieg der Zinsaufschläge für die Krisenländer im Euroraum spiegelt die Spekulation über ihr mögliches Ausscheiden wider. Die Sorge, dass die Krise einzelner Länder auf andere Länder übergreift und der Euroraum auseinanderbricht, veranlasste die Europäische Zentralbank (EZB) zu handeln. In diesem Zusammenhang fielen am 26. Juli 2012 die mittlerweile berühmten Worte von Präsident Mario Draghi, die EZB werde den Euro mit allen Mitteln („whatever it takes“) verteidigen. Diese Sätze fielen im Zusammenhang mit der Ankündigung des „Outright Monetary Transaction“(OMT)-Programms. In dessen Rahmen darf die EZB Staatsanleihen der Krisenländer in vorab nicht explizit genannter Höhe aufkaufen. Das bedeutet, dass die EZB im Notfall eine wesentlich höhere Menge an Staatsanleihen aufkaufen darf, als sie es zum Beispiel im Rahmen des zum Jahresende auslaufenden erweiterten Programms zum Aufkauf von Vermögenswerten macht.

Zwei weitere wichtige geldpolitische Programme, die zuvor in der Eurokrise aufgelegt wurden, waren das Programm für längerfristige Refinanzierungsgeschäfte (LTRO) sowie das Programm für Wertpapiermärkte (SMP). Innerhalb des LTRO-Programms hatte die EZB im Dezember 2011 Banken Zentralbankreserven über einen längeren Zeitraum als üblich zur Verfügung gestellt. Das SMP-Programm erlaubte der EZB den Ankauf von Anleihen, insbesondere von Staatsanleihen, außerhalb ihres normalen geldpolitischen Geschäftes. Innerhalb dieses Programms hatte sie im Mai 2010 zuerst Anleihen im Wert von rund 75 Milliarden Euro (SMP1), in einer zweiten Phase im August 2011 Anleihen im Wert von etwa 220 Milliarden Euro (SMP2) gekauft. Diese geldpolitischen Programme sollten dabei helfen, die Finanzkrise zu überwinden und die Wirtschaft im Euroraum wieder zu stabilisieren. Damit trugen sie wahrscheinlich auch zu einer Reduktion der Konvertibilitätsrisiken für Italien bei. Abbildung 3 zeigt die Differenz des von den Finanzmärkten wahrgenommenen Konvertibilitätsrisikos 20 Tage vor der geldpolitischen Intervention und 20 Tage danach. Das Zeitfenster ist so gewählt, um auszuschließen, dass die geldpolitische Maßnahme schon von den Märkten vorweggenommen wird, und um der Maßnahme Zeit für die Wirkung einzuräumen. Im Falle des zweiten und wesentlich größeren SMP, des LTRO und des OMT sank das Konvertibilitätsrisiko spürbar.

 Abbildung 3:  Konvertibilitiätsrisiko sinkt nach geldpolitischer Intervention der EZB
 Risiko für das Folgejahr in Prozent je 20 Handelstage vor und nach der Intervention

Quelle: Bloomberg; Datastream; eigene Berechnungen.

Die Kehrseite der Medaille: Wahrscheinlichkeit für den Austritt Deutschlands steigt

Ein Konvertibilitätsrisiko besteht aber nicht nur für Krisenländer. Wird das an den Finanzmärkten wahrgenommene Konvertibilitätsrisiko für Deutschland bestimmt, das heißt wie AnlegerInnen für ein mögliches Ausscheiden Deutschlands aus dem Euroraum kompensiert werden, so zeigt sich, dass deutsche Anleihen mit Konvertibilitätsrisiko und kurzer Laufzeit zwischen 2010 und 2014 im Schnitt etwa 0,75 Prozent weniger an Rendite abwarfen als diejenigen ohne ein solches Risiko. In anderen Worten: Die Finanzmärkte hielten einen Austritt Deutschlands nicht für unmöglich, gingen aber von einer Aufwertung einer deutschen Währung aus. Die Gründe dafür sind spiegelbildlich zu den Gründen für die erwartete Abwertung Italiens: Die AnlegerInnen erwarteten eine straffe Geldpolitik der Bundesbank, die geringere Inflationsraten zulassen würde als die EZB und auch nicht auf dem Devisenmarkt zugunsten der deutschen Exportwirtschaft intervenieren würde. Die geldpolitischen Maßnahmen der EZB haben das Konvertibilitätsrisiko für Deutschland in der Regel verstärkt, weil sie wohl dazu geführt haben, dass die Finanzmärkte eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für den Austritt Deutschlands aus dem Euroraum annahmen. Dies war insofern begründet, als sich die EZB hinsichtlich ihrer geldpolitischen Krisenprogramme mit starker Kritik vor allem von deutschen Seite konfrontiert sah.

Abbildung 4:  Das Konvertibilitätsrisiko Deutschlands sinkt während der OMT-Verhandlungen
Renditeeinbußen von deutschen Anleihen mit Konvertibilitätsrisiko für das folgende Jahr gegenüber Anleihen ohne dieses Risiko in Prozent

Quelle: Bloomberg; Datastream; eigene Berechnungen.

Die Kritik gipfelte darin, dass im Jahr 2012 mehrere Abgeordnete des Bundestages aus dem gesamten politischen Spektrum (unter anderem Peter Gauweiler von der CSU und Gregor Gysi von der Linken) die EZB und die Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht verklagten. Sie warfen der EZB vor, mit dem OMT-Programm ihr Mandat zu überschreiten. Für den Zeitraum der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zwischen April und Juni 2013 sank das Konvertibilitätsrisiko um ein Prozent und wurde negativ (Abbildung 4). Am 19. April 2013 gab das Bundesverfassungsgericht für den 11. und 12. Juni 2013 eine zweitägige Anhörung bekannt. Die Tagesordnung der Anhörung und die bestellten Experten (unter anderem öffentliche Kritiker der EZB-Politik wie Hans-Werner Sinn und Harald Uhlig) legten eine kritische Sichtweise der Richter bezüglich des OMT-Programms nahe. Im Mai 2013 wurde eine Studie unter der Federführung des ehemaligen Verfassungsrichter Udo di Fabio in der FAZ besprochen. Die Überschrift des Artikels lautete: „Notfalls ist Deutschland zum Euro-Austritt verpflichtet“. Erst ab Februar 2014 ging das Risikomaß nach der Übergabe des Falles an den Europäischen Gerichtshof langsam zurück.

Große Summen werden durch Konvertibilitätsrisiko umverteilt

Bis jetzt hat sich das Konvertibilitätsrisiko für keines der Euroländer realisiert. Noch ist in keinem Land eine neue Währung eingeführt worden. Aber bereits die Möglichkeit eines Euroaustritts hat, wie gezeigt, Auswirkungen auf die Finanzmärkte und die privaten Haushalte, die hauptsächlich in kurzfristigen nominalen Vermögenswerten vorsorgen. Gerade diese Anlageformen wie Giro-, Tagesgeld- oder Sparkonten sind durch steigende oder sinkende Zinsen vom Konvertibilitätsrisiko betroffen, weil sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine neue Währung umgestellt werden würden. Gleiches gilt aber auch für Hypotheken- und Verbraucherkredite, den beiden wichtigsten Schuldformen privater Haushalte. Dementsprechend werden augenscheinlich sichere Anlageformen plötzlich ein wenig spekulativ und das sich nicht realisierende Konvertibilitätsrisiko trägt zur Umverteilung innerhalb eines Landes bei: In Deutschland, wo das Konvertibilitätsrisiko zu sinkenden Zinsen für Einlagen und Kredite führt, verlieren diejenigen, die sparen, und gewinnen diejenigen, die kreditfinanziert investieren, zum Beispiel HäuslebauerInnen und Unternehmen. In Italien, wo durch das Konvertibilitätsrisiko die Zinsen für Einlagen und Kredite steigen, verlieren diejenigen, die Kredite aufnehmen, und gewinnen diejenigen, die sparen.

Die Summen, die hier bewegt werden, sind atemberaubend groß. Die Unterschiede in der Verzinsung, zum Beispiel von Tagesgeldern auf Konten in Krisenländern und auf Konten in Nicht-Krisenländern während der Spitze der Eurokrise, legen nahe, dass Banken einen großen Teil des Konvertibilitätsrisikos an ihre Kunden weitergegeben haben. Was heißt das für die Umverteilung von SparerInnen zu KreditnehmerInnen zum Beispiel durch die OMT-Klage? In Deutschland werden rund 1300 Milliarden Euro an täglich fälligen Anlagen gehalten. Die mit der OMT-Klage verbundene Unsicherheit über einen Euro-Austritt Deutschlands führte zu einem Rückgang kurzfristiger Renditen von rund 0,6 Prozent für ein Jahr. Angenommen die Banken haben davon die Hälfte an ihre KundInnen durchgereicht, so hat die OMT-Klage die SparerInnen in Deutschland rund vier Milliarden Euro gekostet, die den DarlehensnehmerInnen zugutekamen.

Fazit: Der Euroraum muss Reformen zur Stabilisierung anstoßen

Das Konvertibilitätsrisiko hat eine starke Verteilungswirkung innerhalb einer Volkswirtschaft, ohne dass diese politisch unbedingt gewollt ist. Das derzeitige Aufkommen von Austrittserwartungen und das damit verbundene Auftreten von Konvertibilitätsrisiken werden durch die Möglichkeit ausgelöst, dass die italienische Regierung einen Teil der Staatsschulden nicht zurückzahlen kann. Die deutlichen Reaktionen der Finanzmärkte zeigen, wie verwundbar Europa immer noch ist.

Der Euroraum benötigt daher dringend ein klares Bekenntnis zu seinem Fortbestand. Dieses Bekenntnis muss mit Reformen einhergehen, die Institutionen und Mechanismen schaffen, die es verhindern, dass einzelne Länder – wie aktuell Italien – Spekulationen über ein Ende des Euroraums befeuern können. Bereits die Spekulation zu einem möglichen Austritt einzelner Länder erhöht die Zinsen in Krisenländern und senkt sie in Ländern, die einen positiven Konjunkturverlauf erleben. Damit wird die Fähigkeit der EZB, effektiv Geldpolitik zu betreiben und auf den Zustand der unterschiedlichen Ökonomien im Euroraum zu reagieren, zusätzlich erschwert.

Fußnote

[1]  Christian Bayer, Chi Hyun Kim und Alexander Kriwoluzky (2018): The term structure of redenomination risk. DIW Discussion Paper Nr. 1740.

Alexander Kriwoluzky

Abteilungsleiter in der Abteilung Makroökonomie

Themen: Europa


Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/181232

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