DIW Wochenbericht 38 / 2024, S. 591-597
Shan Huang, Hannes Ullrich
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„Häufige Verschreibungen gehen nicht mit besserer Patientengesundheit einher. Dies weist auf Ineffizienzen bei der Verordnung von Antibiotika in Arztpraxen hin.“ Hannes Ullrich
Die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen stellt eine der größten gesundheitspolitischen Herausforderungen dar. Dabei wird das Verschreiben von Antibiotika in Allgemeinarztpraxen als eine der Hauptursachen für das Auftreten resistenter Bakterien angesehen. Schwer zu ermitteln ist jedoch, ob die Verwendung von Antibiotika in jedem Fall medizinisch notwendig ist. Für Dänemark konnte nachgewiesen werden, dass Behandlungsstile von Allgemeinmediziner*innen für 50 bis 80 Prozent der Unterschiede in den Verschreibungshäufigkeiten verantwortlich sind. Eine höhere Verschreibungshäufigkeit geht zudem nicht mit einer höheren Behandlungsqualität einher, was für Maßnahmen zur Reduktion von Antibiotikagaben spricht. In Deutschland sind ähnliche Ineffizienzen hinsichtlich der Antibiotikanutzung zu erwarten, allerdings ist eine Messung nicht möglich. Dazu wäre der Zugang zu verknüpfbaren Personendaten aus dem Gesundheitssystem und anderen Bereichen erforderlich. So ließen sich nicht nur Ineffizienzen bei Antibiotikaverschreibungen messen, sondern auch evidenzbasierte, gesundheitspolitische Reformen zur Erhöhung der Effizienz im Gesundheitssystem ableiten.
Kürzlich berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung über sinkendes Vertrauen ins Gesundheitssystem in Deutschland, unter anderem aufgrund von Mangelsituationen wie langen Wartezeiten, Engpässen in der Medikamentenversorgung oder Aufnahmestopps in Arztpraxen.Vgl. Renate Köcher (2024): Vertrauen ins Gesundheitssystem sinkt rapide. faz.net (online verfügbar; abgerufen am 28.08.2024. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Zwar gilt die Krankenversorgung in Deutschland im internationalen Vergleich als ausgezeichnet, sie ist aber auch teuer und stößt an ihre Leistungsgrenzen.Vgl. Eric C. Schneider et al. (2021): Mirror, Mirror 2021 – Reflecting Poorly: Health Care in the U.S. Compared to Other High-Income Countries. The Commonwealth Fund Report, August 2021. Mit 497,7 Milliarden Euro im Jahr 2022 machten Gesundheitsausgaben 12,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland aus. Vgl. Statistisches Bundesamt (2024): Gesundheitsausgaben im Jahr 2022 auf knapp 500 Milliarden Euro gestiegen. Pressemitteilung Nr. 167 (online verfügbar). Effizienzsteigernde Reformen sind daher für ein modernes Gesundheitssystem in Deutschland essenziell, gleichzeitig sind sie herausfordernd und politisch umstritten. Dies liegt nicht zuletzt an einem häufigen Mangel der Datengrundlage für eine quantitative Messung möglicher Ineffizienzen und deren Einflussfaktoren. Einzelne Anbieter, wie Krankenhäuser, können zwar Analysen im privatwirtschaftlichen Eigeninteresse durchführen, für politische Maßnahmen sind jedoch Fakten über die Gesamtheit der Krankenversicherungen, der Krankenversorger sowie der Bevölkerung notwendig.
Die Messung von Ineffizienzen in der Krankenversorgung ist ein wichtiger Fokus in der bestehenden gesundheitsökonomischen Forschung, denn sie binden knappe Ressourcen im Gesundheitssystem und Patient*innen tragen unnötige, direkte Kosten.Vgl. Katherine Baicker und Amitabh Chandra (2004): Medicare Spending, the Physician Workforce, and Beneficiaries’ Quality of Care. Health Affairs 23(Suppl. 1). Michael E. Porter (2010): What Is Value in Health Care? New England Journal of Medicine 363(26), 2477–2481. Aaron L. Schwartz et al. (2014): Measuring Low-Value Care in Medicare. JAMA Internal Medicine 174(7), 1067–1076. Die wachsende wissenschaftliche Literatur liefert zum Beispiel Ergebnisse zu Unterschieden zwischen gesetzlich und privat Krankenversicherten in der Terminvergabe (Anna Werbeck et al. (2021): Cream skimming by health care providers and inequality in health care access: Evidence from a randomized field experiment. Journal of Economic Behavior & Organization 188, 1325–1350), in der zahnärztlichen Versorgung (Felix Gottschalk, Wanda Mimra und Christian Waibel (2020): Health services as credence goods: A field experiment. The Economic Journal 130(629), 1346–1383), zu Entscheidungen für Knieoperationen (Emma Pierson et al. (2021): An algorithmic approach to reducing unexplained pain disparities in underserved populations. Nature Medicine 27(1), 136–140), und zu Kostenabrechnungen von Krankenhäusern (Zack Cooper et al. (2019): The Price Ain’t Right? Hospital Prices and Health Spending on the Privately Insured. The Quarterly Journal of Economics 134(1), 51–107). Ineffizienz kann sich zeigen, wenn eine Person mit einem gewissen Versorgungsbedarf zu zwei verschiedenen Arztpraxen oder Krankenhäusern geht, dort aber nicht dieselbe Behandlungsqualität erhält. In solchen Fällen kann es bei einem oder sogar beiden Versorgern Verbesserungspotenziale geben. Um diese Potenziale transparent zu machen, müssen Behandlungsentscheidungen für individuelle Patient*innen und deren Versorger über einen längeren Zeitraum beobachtet und analysiert werden.
In der Studie, auf der dieser Wochenbericht basiert, wird anhand von auf Personenebene verknüpften Administrativdaten zu Antibiotikaverschreibungen von Allgemeinarztpraxen in Dänemark untersucht, wie wichtig Behandlungsstile von Ärzt*innen als Erklärung für Unterschiede in der Häufigkeit von Antibiotikaverschreibungen sind (Kasten 1).Siehe Shan Huang und Hannes Ullrich (2024): Provider effects in antibiotic prescribing: Evidence from physician exits, Journal of Human Resources (online verfügbar). Die Studie wurde unter anderem deswegen mit Daten aus Dänemark durchgeführt, weil vergleichbare Daten in Deutschland nicht für die Forschung zugänglich sind. Behandlungsstile umfassen alle Faktoren bei Behandlungsentscheidungen, die verschiedene Patient*innen gleichermaßen betreffen. Sie entstehen zum Beispiel als Konsequenz unterschiedlicher Erfahrungen, Fähigkeiten, Anreize und Präferenzen der behandelnden Ärzt*innen.
Die diesem Bericht zugrundeliegende Studie verwendet auf Personenebene verknüpfte Verschreibungsdaten, organisatorische Daten der allgemeinärztlichen Praxen, Abrechnungsdaten der Praxen und Krankenhäuser, Arbeitsmarktdaten und Todesfalldaten für die gesamte dänische Bevölkerung.
Der Zugang zu solchen Administrativdaten für die Forschung ist in vielen Ländern gesetzlich verankert. Eine Vorreiterrolle haben hier die skandinavischen Länder und die Niederlande. Zur Wahrung des Datenschutzes und der Einhaltung der europaweit geltenden Datenschutzgrundverordnung trifft in diesen Ländern eine Behörde die Einzelfallabwägung, ob der gesamtgesellschaftliche Nutzen eines Projekts die Kosten, die durch Datenschutzrisiken entstehen, übertreffen. In Deutschland werden solche Daten in Teilbereichen auch zur Verfügung gestellt. Allerdings verhindern die bestehenden gesetzlichen Regelungen und institutionellen Gegebenheiten oft den Zugang zu Daten oder nötige Verknüpfungen von Daten zu Forschungszwecken.Vgl. die Ausführungen in den Stellungsnahmen zum Forschungsdatenzugang sowie zum Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Bildung und Forschung auf der Internetseite des Vereins für Socialpolitik (online verfügbar).
Antibiotikaverschreibungen stellen einen beispielhaften Kontext ineffizienter Versorgung dar. Antibiotika sind lebenswichtige Medikamente, die bereits Millionen von Menschenleben gerettet haben. Sie werden dringend benötigt, um schwerwiegende Krankheiten und Komplikationen von bakteriellen Infektionen wie Sepsis zu behandeln. Allerdings wurden Antibiotika in der Vergangenheit insbesondere im allgemeinärztlichen Bereich intensiv eingesetzt, auch dann, wenn der medizinische Nutzen fragwürdig war.Vgl. Carl Llor und Lars Bjerrum (2014): Antimicrobial resistance: risk associated with antibiotic overuse and initiatives to reduce the problem. Therapeutic Advances in Drug Safety 5(6), 229–241. Gleichzeitig gibt es häufig Fälle, in denen Antibiotika hilfreich wären, aber nicht eingesetzt werden. Die Ursache für die gleichzeitige Unter- und Überversorgung ist in der diagnostischen Unsicherheit im klinischen Alltag zu finden.Vgl. Michael A. Ribers und Hannes Ullrich (2023): Machine predictions and human decisions with variation in payoffs and skill: the case of antibiotic prescribing. Berlin School of Economics Discussion Paper Nr. 27 (online verfügbar). Unter Unsicherheit sind Entscheidungen, die sich im Nachhinein als Fehler herausstellen, nicht zu vermeiden. Hierbei spielen subjektive Kosten- und Nutzenbewertungen sowie Anreize und Erwartungen von Ärzt*innen eine große Rolle.
Der Einsatz von Antibiotika beinhaltet zusätzlich zur Kosten- und Nutzenabwägung für individuelle Patient*innen eine soziale Kostenkomponente: Jedes verwendete Antibiotikum trägt dazu bei, dass sich Bakterien bilden und vermehren können, die resistent gegen das verwendete Antibiotikum sind. Verbreiten sich resistente Bakterien, können sie eine Gefahr für die ganze Gesellschaft darstellen. Durch resistente Bakterien können ansonsten harmlose normale Infektionen und Routineeingriffe wie kleinere Operationen zu Hochrisikofällen werden. In den schlimmsten Fällen sind bakterielle Infektionen nicht mehr pharmazeutisch behandelbar und verursachen so weltweit bereits 1,27 Millionen Todesfälle pro Jahr.Vgl. Christoper J. L. Murray et al. (2022): Global burden of bacterial antimicrobial resistance in 2019: A systematic analysis. The Lancet 399(10325), 629–655. Im Vergleich hierzu verursachte die durch Covid-19 verursachte Pandemie in den ersten drei Jahren weltweit 6,73 Millionen Todesfälle, das heißt 2,24 Millionen Todesfälle pro Jahr, die ab dem vierten Jahr stark abebbten. Vgl. Our World in Data: COVID-19 (online verfügbar).
Effizienzgewinne können erreicht werden, wenn – bei gleichbleibender Behandlungsqualität – weniger Antibiotika verwendet werden. Eine solche Verringerung des Antibiotikaeinsatzes in der Humanmedizin ist erklärtes Ziel vieler Länder und wird auch von der Weltgesundheitsorganisation intensiv verfolgt und gefördert.Vgl. die Ausführungen im WHO Factsheet (online verfügbar). Um die Potenziale dieser Strategie zu erkennen und ihren Umfang zu identifizieren, müssen Ineffizienzen jedoch empirisch gemessen werden.
Im Allgemeinen besteht bei der Messung von Ineffizienzen im Gesundheitssystem eine wichtige Herausforderung darin, dass Ärzt*innen und Patient*innen gemeinsam zu Behandlungsentscheidungen und -ergebnissen beitragen. Das Verhalten beider Seiten beeinflusst das Ergebnis und kann die Quelle von Ineffizienzen sein.
Ein Weg zur Messung der Folgen zum Beispiel unterschiedlicher Diagnosequalitäten, verschiedener Anreize oder organisatorischer Designs ist die Durchführung von Feldexperimenten. Hier könnten per Zufall Patient*innen unterschiedlichen behandelnden Ärzt*innen oder Krankenhäusern zugewiesen werden. Solch eine zufällige Zuordnung im Gesundheitsbereich stößt aber schnell an ethische Grenzen und ist daher in der Regel nicht durchführbar. Allerdings können experimentelle Untersuchungen unter gewissen Umständen durch die Analyse von Beobachtungsdaten, zum Beispiel klinische Routinedaten oder Abrechnungsdaten, nachgebildet werden. So lassen sich auch robuste, kausale Effekte messen.
Für die Kausalanalysen wird eine institutionelle Eigenschaft im dänischen Gesundheitssystem, das bindende Hausarztprinzip, genutzt. Alle Einwohner*innen in Dänemark müssen sich auf die Liste einer allgemeinärztlichen Praxis einschreiben, an welche sie sich im Krankheitsfall wenden können. Ein Wechsel zu anderen Praxen ist zwar gegen Gebühr möglich, kommt aber selten vor. Es gibt jedoch zwei Ausnahmen: Ein Wechsel zu einer neuen Praxis wird im Falle eines Umzugs nötig, oder wenn die aktuelle Praxis schließt.Die Verknüpfung der Administrativdaten über Allgemeinarztpraxen mit denen zu Beschäftigung, Leistungsabrechnungen und Todesfällen ermöglicht eine genaue Definition von Fällen, in denen Ärzt*innen aus von der Krankenversorgung unabhängigen Gründen ihre Praxen abgeben oder verlassen.
Wechseln Patient*innen ihre Praxis, kann die Häufigkeit ihrer Antibiotikaverschreibungen mit der Häufigkeit von Antibiotikaverschreibungen für Patient*innen verglichen werden, die ihre Praxis nicht wechseln (müssen).Ein Inhaberwechsel in einer weiterbestehenden Praxis wird einem Praxiswechsel für die Patient*innen gleichgesetzt, die bei dieser Praxis bleiben, da auch sie nun von einer anderen Person behandelt werden. Ein solcher Vergleich ist wichtig, um sicherzustellen, dass Änderungen in den Verschreibungshäufigkeiten nicht auf zeitliche oder geografische Trends, wie etwa lokale Antibiotikaresistenzen, oder auf eine systematische Praxiswahl der Patient*innen zurückzuführen sind, sondern kausal auf Unterschiede in den Behandlungsstilen (Kasten 2).
Ein gängiger wirtschaftswissenschaftlicher Ansatz zur Messung kausaler Effekte in Routinedaten, die nicht für den Zweck einer experimentellen Untersuchung erhoben werden, ist die Differenzen-von-Differenzen-Methode. Sie vergleicht im einfachsten Fall die Veränderungen im Ergebnis über zwei Zeitpunkte zwischen einer Gruppe, die einem Ereignis ausgesetzt ist (Treatmentgruppe), und einer Gruppe, die dem Ereignis nicht ausgesetzt ist (Kontrollgruppe). Die Messung kausaler Effekte beruht dabei auf der Annahme, dass sich die Ergebnisse beider Gruppen ohne das Ereignis gleich, oder zumindest parallel, entwickelt hätten. Hier lässt sich diese Annahme dadurch untermauern, dass Schließungen von Praxen unabhängig von den Antibiotika-Verschreibungsstilen der Praxen – oft aufgrund von Eintritt in den Ruhestand – erfolgen.
Damit kann, nach geeigneter Normierung der Differenz in den Verschreibungshäufigkeiten, der Anteil gemessen werden, zu dem die Variation von Antibiotikaverschreibungen kausal verschiedenen Praxisstilen zugerechnet werden kann. Verschreibt Praxis A im Jahr pro Patient*in ein Antibiotikum und Praxis B drei Antibiotika, so kann sich dieser Unterschied darin begründen, dass sich die Bedarfe der Patient*innen zwischen den Praxen oder die Behandlungsstile der Praxen unterscheiden. Wechseln nun aber Patient*innen so gut wie zufällig ihre Hausarztpraxis, ändert sich zum gleichen Zeitpunkt nicht ihr Gesundheitszustand, sondern die behandelnde Person. Durch diese Wechsel kann der Anteil, den Ärzt*innen an Verschreibungsentscheidungen haben, gemessen werden.
Grundlage der empirischen Analyse sind Administrativdaten aus der dänischen Gesamtbevölkerung, aus welchen nach verschiedenen Bereinigungen Beobachtungen über alle Antibiotikaverschreibungen von rund 1,37 Millionen Einwohner*innen bei 805 Allgemeinarztpraxen für den Zeitraum 2005 bis 2012 genutzt werden. In diesem Zeitraum verließen Ärzt*innen in 242 Fällen ihre Praxis, wodurch ein Fünftel der Einwohner*innen einem unfreiwilligen Wechsel ihrer Hausärzt*innen ausgesetzt war. Auf Basis dieser Daten lässt sich zunächst deskriptiv feststellen, dass die Häufigkeit von Antibiotikaverschreibungen in Dänemark deutlich zwischen Allgemeinarztpraxen variiert. Im Jahr 2012 verschrieben die Praxen im Durchschnitt 0,86-mal Antibiotika pro Patient*in. Zwischen Praxen variiert der Unterschied in den durchschnittlichen Verschreibungen aber deutlich zwischen −0,40 und 0,33 (Abbildung 1).
Der Einfluss ärztlicher Behandlungsstile auf die beschriebenen Verschreibungsunterschiede lässt sich bestimmen, indem die Veränderung der Verschreibungen nach einem Praxiswechsel relativ zur Differenz der durchschnittlichen Verschreibungen zwischen der alten und der neuen Praxis betrachtet und mit den zeitlichen Veränderungen bei Patient*innen ohne Praxiswechsel verglichen wird. Die Normierung durch die beobachteten Differenzen der Verschreibungshäufigkeiten ermöglicht eine Interpretation der Schätzwerte als prozentuale Anteile der Behandlungsstile an den Differenzen. In den Jahren vor dem Wechsel sind keine Unterschiede im geschätzten Einfluss praxisspezifischer Behandlungsstile erkennbar – dieser bleibt über alle Vorjahre hinweg konstant bei null (Abbildung 2). Nach dem Wechsel steigt der geschätzte Einfluss jedoch signifikant an und bleibt über die Zeit hinweg auf einem hohen Niveau.
Während der Effekt von praxisspezifischen Behandlungsstilen über alle Antibiotikaklassen hinweg 49,4 Prozent beträgt, ist er bei Antibiotikaklassen, die als Medikamente für kompliziertere Fälle zurückgehalten werden sollten, mit 82,8 Prozent deutlich höher. Bei diesen Antibiotikaklassen, die zudem einen stärkeren Effekt auf die Entwicklung von Resistenzen haben und somit nur zurückhaltend verwendet werden sollten, können damit fast die gesamten Unterschiede zwischen Allgemeinarztpraxen durch deren Behandlungsstile erklärt werden.
Die Ergebnisse lassen sich auch mit anderen Eigenschaften von Ärzt*innen und ihren Praxen verknüpfen. So weisen beispielsweise jüngere Ärzt*innen Behandlungsstile auf, bei denen weniger häufig Antibiotika verschrieben werden. Das Alter und damit auch die Zeit, die seit der medizinischen Ausbildung zurückliegt, sind wesentliche Faktoren für Unterschiede in Behandlungsstilen. Allerdings lassen sich zwei Drittel der geschätzten Effektgröße nicht durch Wechsel der Patient*innen von älteren hin zu jüngeren Ärzt*innen erklären. Ein Großteil der Variation ist durch andere Faktoren bestimmt. Zum Beispiel verschreiben Ärzt*innen in Gemeinschaftspraxen ebenfalls seltener Antibiotika.
Für die Bewertung, ob die gemessene Variation durch zu häufige oder zu geringe Antibiotikanutzung gekennzeichnet ist, müssen entsprechende Maße zur Behandlungsqualität untersucht werden. Hier zeigt sich, dass antibiotikaintensivere Behandlungsstile mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einhergehen, nach der ersten Verschreibung eine Folgeverschreibung zu erhalten. Folgeverschreibungen können nötig sein, wenn die vorige Behandlungsentscheidung keine wirksame Besserung herbeiführen konnte, zum Beispiel wenn aufgrund mangelnder diagnoserelevanter Informationen nicht das richtige Antibiotikum verschrieben wurde. Des Weiteren ist bei Allgemeinarztpraxen, die mehr Antibiotika verschreiben, die Rate der Verschreibungen, bei denen keine diagnostischen Tests – wie Schnelltests beim Patient*innenbesuch in der Arztpraxis – durchgeführt wurden, höher als bei Praxen, die weniger häufig Antibiotika verschreiben. Diese Ergebnisse geben Hinweise darauf, dass häufigere Antibiotikaverschreibungen eher mit Behandlungspraktiken von geringerer Qualität korrelieren.
Ein noch direkteres Qualitätsmaß im Sinne der Patient*innenversorgung kann durch die Verknüpfung der Verschreibungsdaten mit dem Krankenhausbehandlungsregister untersucht werden. Die bestehende Klassifikation ambulant vermeidbarer, durch Infektionen begründeter Krankenhausbesuche spiegelt Krankheitsverläufe wider, die in der Regel durch eine angemessene allgemeinärztliche Versorgung hätten vermieden werden können. Die Häufigkeiten solcher Einweisungen von Patient*innen der verschiedenen Allgemeinarztpraxen können mit Unterschieden in den Behandlungsstilen verglichen werden. Zum Beispiel könnte es sein, dass ein stärkerer Antibiotikaeinsatz durch Allgemeinärzt*innen zu weniger Krankenhausbesuchen führt, da die Eskalation komplizierterer Infektionen vermieden wird. Es finden sich jedoch keine Hinweise darauf, dass diese Art von Krankenhausbesuchen bei Behandlungsstilen mit häufigerem Antibiotikaeinsatz seltener vorkommt. Im Gegenteil, bei Behandlungen mit häufigeren Verschreibungen der Antibiotikaklasse der Penicilline treten ambulant vermeidbare Krankenhausbesuche sogar häufiger auf. Dies kann dadurch begründet sein, dass virale Infektionen unnötigerweise mit Antibiotika behandelt werden, dabei aber andere Behandlungsmöglichkeiten wie Krankschreibungen und Ruhe vernachlässigt werden.
Die Ergebnisse deuten auf politische Handlungsspielräume zur Verbesserung der Diagnose- und Verschreibungspraxis im Sinne einer reduzierten Verwendung von Antibiotika im allgemeinmedizinischen Bereich in Dänemark hin. Insbesondere die Erkenntnisse zur Rolle von Wechseln hin zu jüngeren Ärzt*innen lässt Rückschlüsse hinsichtlich der sich wandelnden medizinischen Ausbildung zu. Eine stärkere Standardisierung der Behandlungsstile im Sinne der Patient*innen könnte durch verbesserte Diagnose- und Verschreibungsrichtlinien, einen verstärkten Fokus auf Antibiotikaresistenzen in der medizinischen Ausbildung sowie entsprechende Weiterbildungsinitiativen erreicht werden. Darüber hinaus kann eine Verbesserung der Diagnosequalität im allgemeinärztlichen Bereich durch Innovationen bei Schnelltesttechnologien und sorgfältigere Diagnostik erreicht werden.
Zwar wurden die Ergebnisse für Dänemark erstellt, wo ein steuerfinanziertes, nationales Gesundheitssystem für einen weitgehend gleichen Zugang zur Krankenversorgung, geringe finanzielle Anreize zur Überversorgung mit Antibiotika und Bemühungen für einen ressourcenschonenden Antibiotikaeinsatz sorgt. In Deutschland könnten ineffiziente Unterschiede durch Behandlungsstile noch größer ausfallen, da Patient*innen zwischen Versicherungen, bis hin zur Wahl zwischen gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen, entscheiden können. Ärzt*innen können, je nach Anreizsetzung der verschiedenen Versicherungen, Patient*innen über- oder unterbehandeln. Zudem können Patient*innen die behandelnde Praxis wechseln und, bei Terminverfügbarkeit, relativ frei die Dienste von Allgemeinärzt*innen und Spezialist*innen beanspruchen. Umso wichtiger ist daher das Erkennen und Quantifizieren von Verzerrungen, um ein gesellschaftlich gewünschtes Niveau der Krankenversorgung durch eine entsprechende Ausgestaltung des deutschen Gesundheitssystems erreichen zu können.
Um Handlungsbedarfe für Deutschland quantitativ zu begründen und zu konkretisieren, sowie vergangene Politikmaßnahmen zu evaluieren, ist der Zugang zu individuellen Verschreibungsdaten, unabhängig von zum Beispiel der geografischen Lage von Praxen oder dem Versicherungsstatus der Patient*innen, notwendig. Das Forschungsdatengesetz, mit dem sich der Bundestag noch in diesem Jahr beschäftigen soll, könnte ein wichtiger Schritt sein, um solche Analysen in Deutschland durch eine modernisierte Gesetzgebung zu ermöglichen. Hierbei ist die Verknüpfbarkeit von Informationen aus verschiedenen Quellen, zum Beispiel aus dem Gesundheitsbereich, dem Arbeitsmarkt oder dem Bildungsbereich, auf der Ebene von Einzelpersonen essenziell. Diese Möglichkeit ist für die Forschung in anderen EU-Ländern bereits Standard, jedoch in Deutschland bisher nicht gegeben.
Das sich im Aufbau befindende Forschungsdatenzentrum Gesundheit ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es bleibt im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu hoffen, dass der Forschung bald auch hier die Verknüpfung aller Administrativdaten ohne vordefinierten Themenbezug ermöglicht wird. Mit einem Fokus auf die unabhängige wissenschaftliche Forschung sollte durch das Forschungsdatengesetz sichergestellt werden, dass grundsätzlich und verpflichtend alle durch öffentliche Stellen generierten Daten unter Wahrung des Datenschutzes für Forschungszwecke verfügbar sind. Die Breite verknüpfbarer Forschungsdaten ist dabei essenziell, da der Gesetzgeber nicht wissen kann, welche Daten für die Forschung im gesamtgesellschaftlichen Interesse nützlich sein werden. Dies gilt insbesondere für die Verknüpfung von Gesundheitsdaten mit Daten aus auf den ersten Blick oft separat erscheinenden gesellschaftlichen Bereichen.
Schlussendlich kommen Daten aus dem deutschen Gesundheitssystem eine entscheidende Rolle zu, um Ineffizienzen mit Hilfe technischer Lösungen wie künstlicher Intelligenz zu verringern. Diese Methoden ermöglichen neue Innovationspotenziale auf Basis der mit zunehmender Digitalisierung wachsenden Datenmengen im Gesundheitsbereich.Vgl. Sendhil Mullainathan und Ziad Obermeyer (2022): Diagnosing physician error: A machine learning approach to low-value health care. The Quarterly Journal of Economics 137(2), 679–727, sowie Ribers und Ullrich (2023), a.a.O. Auch für diese Innovationen sind in der Grundlagenforschung Bevölkerungsdaten wichtig, um ein unverzerrtes Bild zu zeichnen und einen gleichwertigen Zugang zu einer modernen Krankenversorgung zu ermöglichen.
Themen: Gesundheit
JEL-Classification: I11;I12;J44
Keywords: antibiotic prescribing, practice styles, general practitioners, linked administrative data
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-38-1