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Nach dem Brexit kommt die Übergangsphase: Deutsche Wirtschaft leidet weiter unter Unsicherheit

DIW aktuell ; 26, 4 S.

Geraldine Dany-Knedlik, Stefan Gebauer, Thore Schlaak

2020

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Ende Januar tritt das Vereinigte Königreich endgültig aus der Europäischen Union aus. Beendet ist das Brexit-Drama damit aber noch nicht: Es beginnt eine elfmonatige Übergangsphase, in der Großbritannien weiterhin an EU-Regeln zum Binnenmarkt gebunden ist. Währenddessen sollen die künftigen Handelsmodalitäten vereinbart und in einem Abkommen festgeschrieben werden. Ob das gelingt, ist fraglich. Sollte es nach der Übergangszeit doch noch zu einem harten Brexit kommen, würde darunter auch die deutsche Wirtschaft leiden. Aktuelle Berechnungen zeigen zudem, dass die anhaltende Unsicherheit ebenfalls Gift für die deutsche Konjunktur ist. Seit dem Brexit-Votum im Jahr 2016 ist das Bruttoinlandsprodukt hierzulande in jedem Jahr um 0,2 Prozentpunkte weniger gewachsen, als es ohne EU-Ausstieg der Briten der Fall gewesen wäre. Während der nun beginnenden Verhandlungen eines Abkommens werden einzelne Unternehmen angesichts der Ungewissheit über die künftigen wirtschaftlichen Beziehungen auch weiterhin nur zögerlich investieren – das kostet voraussichtlich erneut 0,2 Prozentpunkte Wachstum. Eine Rezession infolge des Brexit droht in Deutschland allerdings nicht.

Der Brexit ist unumkehrbar: Nachdem Boris Johnson im Sommer vergangenen Jahres Theresa May als Premierminister folgte, wurde das Austrittsdatum zwar noch einmal – auf den 31. Januar 2020 – verschoben. In der Zwischenzeit gab es sogar vorgezogene Neuwahlen. Mit der Zustimmung des Unterhauses, der Unterzeichnung des Brexit-Abkommens durch den britischen Premier und die EU-Spitze sowie mit der Ratifizierung durch das EU-Parlament ist der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union nun endgültig beschlossene Sache.

Nach wie vor offen ist jedoch, ob es zu einem geordneten oder einem ungeordneten Austritt kommt. Das aktuelle Abkommen sieht nach dem 31. Januar eine Übergangsphase bis Ende 2020 vor, in der das Vereinigte Königreich weiterhin an EU-Regularien – beispielsweise zum gemeinsamen Binnenmarkt – gebunden ist, allerdings kein Stimmrecht mehr in EU-Gremien hat. Damit bleibt der britischen Regierung und der EU nur knapp ein Jahr, um die langfristigen Beziehungen auszuhandeln und in einem Handelsabkommen festzuhalten. Das ist ein sehr ambitionierter Zeitplan: Die Verhandlungen des Freihandelsabkommen zwischen der EU und Japan beispielsweise dauerten rund vier Jahre, das umfassende Wirtschafts- und Handelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) sogar sieben Jahre. Die britische Regierung kann theoretisch bis Ende Juni beantragen, die Übergangsphase auf maximal zwei Jahre zu verlängern – dies hat der britische Premierminister Johnson jedoch bereits ausgeschlossen.

Doch Zeit ist nicht das einzige Problem – auch inhaltlich wird es knifflig. Unstrittig scheint zwar das gemeinsame Ziel eines zoll- und abgabenfreien Handels. Auf einen uneingeschränkten Handel dürfte sich die EU allerdings nur einlassen, wenn der britische Partner zusagt, sich auch künftig an europäische Produktstandards und andere EU-Regularien im Arbeitsrecht sowie im Bereich Soziales und Umwelt zu halten. Allerdings möchte das Vereinigte Königreich die bisherige enge Bindung an EU-Regularien deutlich lockern. Sollte das Abkommen auch Vereinbarungen zu Dienstleistungen, Finanzgeschäften, Daten oder Investitionsschutz enthalten, müssten alle EU-Mitgliedstaaten und die Regionalparlamente zustimmen. Dass dies einiges Verzögerungspotential birgt und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Abkommen im ersten Anlauf durch kommt, deutlich verringert, war eine der Erfahrungen im Rahmen des CETA-Abkommens.

Zusätzliche Unwägbarkeiten dürften aus den gleichzeitigen bilateralen Handelsgesprächen des Vereinigten Königreichs mit den USA entstehen. Diese Dreieckskonstellation wird den Verhandlungsprozess zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich wohl erschweren, insbesondere durch die konkurrierenden amerikanischen und europäischen Forderungen.

Brexit-Unsicherheit dämpft das Wachstum der deutschen Wirtschaft

Obgleich die wirtschaftspolitischen Modalitäten bislang nahezu unverändert sind und es bis zum Ende der Übergangphase auch bleiben werden, verursachen der langwierige Austrittsprozess und die anstehenden Handelsgespräche gesamtwirtschaftliche Kosten auch in Deutschland. Die anhaltenden Unklarheiten über die konkreten Modalitäten der künftigen wirtschaftlichen Beziehungen wirken sich hierzulande dämpfend auf die Konjunktur aus, da Unternehmen und VerbraucherInnen die zukünftigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen nur schwer abschätzen können. So führt erhöhte Unsicherheit beispielsweise dazu, dass Unternehmen Investitionsentscheidungen verschieben oder sogar revidieren. Zudem halten sich VerbraucherInnen mit größeren Anschaffungen eher zurück.

Die Wirtschaftsleistung in Deutschland ist aufgrund der Brexit-Unsicherheit seit dem Referendum im Jahr 2016 bis zum eigentlich geplanten Austrittsdatum Ende Oktober vergangenen Jahres um insgesamt 0,8 Prozentpunkte weniger gewachsen, als es ohne Brexit der Fall gewesen wäre (Abbildung). Im Jahresdurchschnitt kostete die Brexit-Unsicherheit die hiesige Wirtschaft also jährlich 0,2 Prozentpunkte Wachstum. Im Zeitverlauf waren dabei in den ersten anderthalb Jahren nach dem Referendum die größten Wachstumseinbußen zu verzeichnen. Dagegen trug ein vorübergehender Rückgang der beobachteten Unsicherheit während der Verhandlungen über ein Austrittsabkommen im Jahr 2018 positiv zur konjunkturellen Entwicklung bei, als die aufgrund der hohen Verunsicherung im Jahr 2017 zurückgehaltene Produktion teilweise nachgeholt wurde.

© DIW Berlin

Da die Gespräche zum Handelsabkommen voraussichtlich ähnlich aufreibend und unwägbar ablaufen werden wie der Verhandlungsprozess zum Austrittsabkommen, dürfte auch für dieses Jahr mit wirtschaftlichen Kosten aufgrund der Brexit-Unsicherheiten zu rechnen sein. Unter der Annahme, dass der Verhandlungsverlauf zwischen der EU und Großbritannien zu durchschnittlich ähnlich großer Verunsicherung führt wie in der Vergangenheit, wird das deutsche Bruttoinlandsprodukt bis zum Ende dieses Jahres seit 2016 um insgesamt einen Prozentpunkt weniger gewachsen sein als ohne Brexit. Würde die Übergangsphase über Ende 2020 hinaus verlängert, lägen die Wachstumseinbußen noch einmal deutlich höher.

Harter Brexit hätte weitreichendere Folgen

Sollte bis zum Ablauf der Übergangsphase kein Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich beschlossen sein, würde es doch noch zu einem ungeregelten, also „harten“, Brexit kommen. Damit würde das Vereinigte Königreich für die EU in Sachen Handelsbeziehungen auf den Status eines Drittstaates zurückfallen. Dies dürfte zu sofortigen Einschränkungen der Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt und des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU führen. Vor allem der beeinträchtigte Warenverkehr würde die deutsche Konjunktur belasten. Berechnungen zeigen, dass im Falle eines harten Brexit die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts in Deutschland im ersten Jahr um 0,6 Prozentpunkte und im zweiten Jahr nach dem harten Brexit noch einmal um 0,2 Prozentpunkte niedriger ausfallen dürfte (Tabelle).

© DIW Berlin

Neben der geringeren heimischen Produktion und dem Wegfall eines Teils der Exporte ins Vereinigte Königreich dürften auch Drittländereffekte zu Wachstumseinbußen in Deutschland führen. Im Falle eines harten Brexit dürfte die Nachfrage nach deutschen Exportgütern aus anderen Ländern schwächer ausfallen. Entsprechend könnten die Zuwächse der deutschen Exporte in den Rest der Welt im ersten Jahr nach einem harten Brexit um 1,3 und im folgenden Jahr um 0,8 Prozentpunkte niedriger ausfallen.

Ein harter Brexit birgt zudem ein erhebliches zusätzliches Verunsicherungspotential für Unternehmen und private Haushalte, da die künftigen wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen zunächst unbestimmt sind. Wie Berechnungen zeigen, würde die jahresdurchschnittliche Expansionsrate des deutschen BIP im ersten Jahr nach einem harten Brexit aufgrund von Unsicherheitseffekten um 0,2 Prozentpunkte niedriger ausfallen, während im folgenden Jahr Aufholeffekte das BIP-Wachstum um 0,1 Prozentpunkte anschieben dürften (Tabelle).[1]

Fazit: Solange es kein Handelsabkommen gibt, leidet die deutsche Wirtschaft unter der Unsicherheit

Trotz des unmittelbar bevorstehenden Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU zu Ende Januar sind die Modalitäten der künftigen wirtschaftlichen Beziehungen unklar. Während der elfmonatigen Übergangsphase bis Ende 2020 muss diesbezüglich Sicherheit geschaffen werden. Doch ob das klappt, ist fraglich: Neben der mehr als knapp bemessenen Zeit sind erhebliche inhaltliche Differenzen mit Blick auf ein Handelsabkommen das größte Hindernis. So könnte es doch noch zu einem harten ungeordneten Brexit kommen – mit entsprechenden Konsequenzen auch für die deutsche Wirtschaft. Um 0,6 Prozentpunkte im ersten Folgejahr und um noch einmal 0,2 Prozent im zweiten würde die Wirtschaftsleistung hierzulande dann voraussichtlich weniger wachsen. Und selbst wenn es dazu nicht kommt: Schon die Unsicherheit der vergangenen Jahre und auch die Unsicherheit während der anstehenden Verhandlungen über ein Handelsabkommen kosten Wachstum: Bis Ende 2020 wird das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland seit dem Brexit-Votum im Jahr 2016 um zusammengenommen ein Prozent weniger gestiegen sein, als es ohne Brexit der Fall gewesen wäre. Eine tiefgreifende Rezession der deutschen Wirtschaft infolge des Brexit ist gleichwohl nicht zu erwarten.

Fußnoten

[1] Vgl. Brautzsch et al. (2019), a.a.O. Diese Effekte auf die Jahreswachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts unterliegen der Annahme, dass die politische Unsicherheit im Falle eines harten Brexit ähnlich ansteigt wie durch die Verschiebung des Austritttermins im März dieses Jahres

Geraldine Dany-Knedlik

Co-Leitung Konjunkturpolitik in der Abteilung Makroökonomie

Themen: Konjunktur, Europa


Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/214209

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