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Die Illusion der guten Wirtschaftspolitik: Kommentar

DIW Wochenbericht 32 / 2021, S. 544

Marcel Fratzscher

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Nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel steht das deutsche wirtschaftspolitische Modell an einer entscheidenden Weggabelung. Deutschland hat zwar wirtschaftlich ein erfolgreiches Jahrzehnt erlebt. Der Glaube, dieser Erfolg sei das Resultat guter Politik und ließe sich so fortführen, ist jedoch eine gefährliche Illusion.

Der wirtschaftliche Erfolg war mehr das Resultat von Glück als von guter Wirtschaftspolitik. Deutsche Unternehmen konnten mehr als andere vom Exportboom nach Asien profitieren und waren Nutznießer des Beschäftigungswunders. Der wichtigste Beitrag der Wirtschaftspolitik der Regierungen unter Merkel war dabei nicht die aktive Unterstützung, sondern die Gewährleistung von Stabilität. Bei der Bewältigung der großen Krisen in diesem Zeitraum bewies die Bundeskanzlerin meist eine hervorragende Intuition, im richtigen Augenblick das Richtige zu sagen und zu tun und dadurch Vertrauen zu schaffen.

Eine gestaltende Wirtschaftspolitik fand jedoch kaum statt: Die globale Finanzkrise wurde nicht genutzt, um Deutschlands ineffizientes Finanzsystem zu reformieren. Die europäische Wirtschaftskrise wurde nicht zum Anlass genommen, die Reform europäischer Institutionen ausreichend voranzutreiben. Auch in der Corona-Pandemie bemüht sich die Bundesregierung zu wenig, einen grundlegenden Politikwechsel Richtung Klimaschutz und Digitalisierung zu vollziehen.

Internationale Vergleiche zeigen unisono, dass staatliche Institutionen in Deutschland hohe Kompetenz haben. Die wichtigste Ursache für das Scheitern von Politik und Staat sind also nicht mangelnde Fähigkeiten, sondern vielmehr ein fehlender politischer Wille zur Veränderung. Die überbordende Bürokratie, über die sich viele beklagen, ist kein Unfall, sondern häufig genau so gewollt. Das Wirtschaftsmodell Deutschlands stellt noch immer die enge Symbiose zwischen Politik und Unternehmen in den Mittelpunkt. Das Bankensystem besteht mehrheitlich aus Finanzinstitutionen, die direkt oder indirekt von Politik und Staat gesteuert werden. Die Industriepolitik versucht nationale Champions zu fördern, doch das wird immer häufiger zum Bumerang. Häufig ist die Bundesregierung in Europa der Bremsklotz, wenn es um höhere Standards beim Klima- und Umweltschutz geht, da sie die Interessen der Wirtschaftslobby verteidigt. Der Merkantilismus der Außenwirtschaftspolitik stellt kurzfristige wirtschaftliche Interessen in den Mittelpunkt, auch wenn dies verlangt, eigene Werte zu unterminieren, wie die Strategie gegenüber China zeigt. Die Industrieverbände haben enormen Einfluss auf politische Entscheidungen und schreiben nicht selten an der Gesetzgebung mit. Selbst beim Lieferkettengesetz, bei dem es vor allem um den Schutz von Menschenrechten geht, ist dies der Fall.

Der Grund, warum die Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur scheitert, ist nicht primär fehlendes Geld oder unzureichende Fähigkeiten staatlicher Institutionen, sondern der politische Wille zur Besitzstandswahrung der Eliten: Eine Verkehrswende und ein schnellerer Umstieg auf alternative Antriebe scheint nicht im Interesse der Automobilbranche zu liegen. Ein zügiger Ausbau von Übertragungsnetzen und Produktionsanlagen für erneuerbare Energien bedroht die Geschäftsmodelle großer Energiekonzerne und lokaler Unternehmen. Eine Wohnungsbaupolitik, die den sozialen Wohnungsbau stärkt, mag zwar gut für Einkommensschwächere sein, aber Wohnungskonzerne bevorzugen ein knappes Angebot und steigende Immobilienpreise.

Tatsache ist: Kaum ein Land in der Welt wäre fähiger, die großen Herausforderungen bei Klimaschutz, digitaler Transformation und Globalisierung erfolgreich zu gestalten, als Deutschland. Hier gibt es viele kluge und hoch motivierte Menschen, innovative und resiliente Unternehmen und kompetente staatliche Institutionen. Doch der fehlende politische Wille zur Veränderung und der Versuch der Besitzstandswahrung verhindern Reformen. Die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands wird nicht nur in China und den USA bestimmt, sondern vor allem von der Antwort auf die Frage: Ist die Politik gewillt, die Dominanz der Besitzstandswahrung zu brechen und Deutschlands Wirtschaftsmodell grundlegend zu erneuern?

Der Beitrag ist am 6. August 2021 bei Zeit online erschienen.

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