DIW Wochenbericht 43 / 2021, S. 724
Christian von Hirschhausen
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Manchmal reibt man sich verwundert die Augen: Die Preise für fossile Energieträger steigen rasant und manchem fällt nichts Besseres ein, als den Ausweg in der Atomkraft zu suchen. Oder die Energiewende dafür verantwortlich zu machen. Diese Reaktionen in Teilen der Energiewirtschaft, aber auch in der Medienberichterstattung zeigen, dass viele die wahren Ausmaße der Energie- und Klimakrise noch nicht verstehen oder eine Chance wittern, im Eigeninteresse die Energiewende abzuwenden. Viele der aktuell diskutierten Lösungen weisen rückwärts. Die Probleme sollen mit den Mitteln gelöst werden, die genau diese Probleme verursacht haben, nämlich die Abhängigkeit von schmutzigen fossilen Energieträgern, mit Preisschwankungen und einem enormen Importbedarf. So schlägt der Economist am 16. Oktober tatsächlich vor, mehr Kernkraftwerke zur Sicherung einer „sauberen“ Grundlastversorgung zu bauen. Der Focus rät AnlegerInnen in seiner Ausgabe vom 16. Oktober, sich gegen steigende Energiepreise mit Geldanlagen ausgerechnet in fossiles „Urgestein“ wie die russische Gazprom oder den Ölmulti Royal Dutch Shell abzusichern; alternativ wird auch Electricité de France (EdF) empfohlen, „der viele Atomkraftwerke besitzende französische Energie-Riese“. Die Energiewirtschaft von gestern macht ihrerseits den Ausbau erneuerbarer Energien zum Sündenbock der derzeitigen Preissteigerungen und fordert eine Verlangsamung, wenn nicht völlige Umkehr von der Energiewende. Welch durchsichtiges Manöver!
Das Gegenteil ist angesagt, nämlich der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien. Und zwar trotz oder gerade wegen der aktuellen Preissteigerung für fossile Energien, insbesondere Erdöl und Erdgas. Sicherlich muss existenziell bedrohten VerbraucherInnen eine stabile Energieversorgung gewährleistet werden. Im Gegensatz zu anderen Ländern ist dies in Deutschland durch die staatlich garantierte Grundversorgung durch die jeweiligen regionalen Energieanbieter auch gewährleistet. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Maßnahmen im Bereich Marktdesign, die die Preisausschläge in Zeiten temporärer Knappheiten einschränken können. Der wesentliche Hebel zur Vermeidung ähnlicher Situationen in der Zukunft ist jedoch, sich von genau diesen Energieträgern unabhängig zu machen und erneuerbare Energien mit effizienten Flexibilitätsoptionen rasch auszubauen. Dabei bieten sich insbesondere dezentrale Lösungen an, die lokale Potenziale von Erneuerbaren und Sektorenkopplung nutzen und weniger auf europaweite oder globale Energieströme angewiesen sind. Dass eine Vollversorgung mit erneuerbaren Energien auch unter stärkerer Berücksichtigung von Dezentralität und räumlicher Verbrauchsnähe der Erzeugung möglich ist, ohne dabei von Importen abhängig zu sein, hat das DIW Berlin in einer aktuellen Studie gezeigt. Dies ist zum einen sinnvoll, um zusätzliche dezentrale Potenziale an erneuerbaren Energien verfügbar zu machen, unter anderem durch Mieterstrommodelle im urbanen Raum für Photovoltaik. Zum anderen ist Bürgerengagement, ein ursprünglicher Treiber der Energiewende in den 1970er Jahren, notwendig, um die Akzeptanz der Energiewende in der Bevölkerung und den Übergang vom fossilen System zu 100-Prozent-Erneuerbaren zu beschleunigen. Dezentrale Erzeugungs- und Verbrauchsmodelle können auch die regionale Wirtschaftskraft stärken. Ausreichend Potenziale an Erneuerbaren gibt es, sowohl bei Wind auf Land und auf See, als auch bei PV-Aufdach- und Freiflächenanlagen, und zwar europaweit.
„Die einzig redliche Antwort ist der forcierte und beschleunigte Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 14. März 2011 kurz nach der Tsunami- und Atomkatastrophe in Fukushima. Dies gilt heute umso mehr: Sowohl aus technischen als auch sozioökonomischen Gründen sollten dabei auch dezentrale Ansätze mit räumlicher Verbrauchsnähe der Erzeugung genutzt werden. Dies ist eine bessere Versicherung gegen Preissteigerungen als der Kauf von Gazprom-Beteiligungen. Nach dem Kohleausstieg muss jetzt der Ausstieg aus fossilem Erdöl und Erdgas (dessen CO2-Bilanz bei einer Lebenszyklusanalyse noch schlechter ausfällt als die der Kohle) zielgerichtet und zeitnah auf den Weg gebracht werden. Und, last but not least, Kernkraft kann wohl niemand ernsthaft als eine „saubere“ und zukunftstaugliche Energiequelle für die Energiewende ins Gespräch bringen.
Themen: Ressourcenmärkte, Energiewirtschaft
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-43-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/248525