Statement vom 9. Juni 2022
Die Europäische Zentralbank (EZB) hat in der heutigen Sitzung ihres Rats entschieden, das Anleihekaufprogramm zu beenden und auf der nächsten Ratssitzung im Juli den Leitzins um 0,25 Prozent zu erhöhen. Marcel Fratzscher, Präsident des DIW Berlin, erklärt dazu:
Trotz einer stark veränderten wirtschaftlichen Lage hält die EZB am Kurs des graduellen Ausstiegs aus ihrer expansiven Geldpolitik fest. Sie musste das Wachstum nach unten und die Inflation nach oben revidieren. Ich befürchte, sie unterschätzt die Risiken eines weiteren Anstiegs der Inflation und der Inflationserwartungen. Sie hätte daher bereits jetzt den Ausstieg umsetzen und die Zinsen anheben können, anstatt den lang angekündigten ersten Zinsschritt nochmals um sechs Wochen zu verschieben. Damit hätte sie ein starkes Signal an Märkte, Sozialpartner und Menschen gesendet, dass sie die Risiken erkannt hat und entschieden handeln wird.
Zwar würde selbst ein rascher und erheblicher Anstieg der Zinsen kaum etwas an der hohen Inflation über die kommenden zwölf Monate ändern. Aber ein starkes Signal für einen entschiedenen Ausstieg aus der expansiven Geldpolitik ist essenziell für die EZB, um die Inflationserwartungen fest zu verankern und damit ihre Glaubwürdigkeit zu schützen. Dadurch wäre sie in Zukunft wieder früher in der Lage, ihr Mandat der Preisstabilität voll zu erfüllen. Meine Befürchtung ist, dass ein zu zögerliches Handeln der EZB einen mittelfristig stärkeren Anstieg der Zinsen erfordern und damit auch die Wirtschaft stärker abbremsen könnte. Ein entschiedenes Handeln könnte zwar Volatilität an den Finanzmärkten auslösen. Dies wäre jedoch ein deutlich geringeres Übel als ein zu starker Anstieg der Inflationserwartungen.
Die EZB hat ihre Handlungsfähigkeit mit ihrer Kommunikationsstrategie der „forward guidance“ zu sehr selbst eingeschränkt. Sie muss sich von dieser Strategie lösen und überzeugender kommunizieren, dass der geldpolitische Kurs vom weiteren Verlauf des Kriegs in der Ukraine, der Pandemie und auch wirtschaftspolitischen Entscheidungen der EU und damit stark von den Daten abhängen wird. Die EZB muss sich jetzt mehr denn je die Möglichkeit schaffen, schnell und flexibel handeln zu können, um sowohl auf einen möglichen Anstieg der Inflation als auch finanzielle Verwerfungen reagieren zu können.
Themen: Geldpolitik