Medienbeitrag vom 11. August 2022
Dieser Gastbeitrag von Alexander Kritikos erschien am 11.08.2022 in der WELT.
Moskaus Angriff auf die Ukraine zeigt: Kriege in Europa sind wieder denkbar. Experten fürchten vor allem eine militärische Aggression der Türkei gegen Griechenland. Für Deutschland heißt das: Anders als im Fall Putin müssen wir nun rasch Abhängigkeiten von Erdogan reduzieren.
Deutsche Regierungsmitglieder haben sich in den vergangenen Wochen in Griechenland die Klinke in die Hand gegeben. Im Juni kam Bundeskanzler Olaf Scholz in Thessaloniki vorbei, kurz danach stattete Finanzminister Christian Lindner Athen einen Besuch ab – der erste eines deutschen Finanzministers seit acht Jahren. Und jüngst holte Außenministerin Annalena Baerbock ihre im Juni wegen einer Corona-Erkrankung abgesagte Reise nach Griechenland nach.
So viel Aufmerksamkeit erhielt das Land noch nicht einmal in den finstersten Tagen der griechischen Wirtschafts- und Finanzkrise.
Die Besuche verdeutlichen die neue strategische Bedeutung Griechenlands innerhalb der EU. Griechenland wird ein immer wichtigerer Außenposten für den Schutz der EU-Außengrenze. Was bisher unter zivilen Schutzaspekten betrachtet wurde, gerät angesichts der zunehmend aggressiven Töne der Türkei und der Provokationen ihres autokratisch regierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan immer mehr zu einer militärischen Bedrohung.
Baerbock kombinierte ihre Griechenland-Reise nicht ohne Grund mit einem Besuch in der Türkei. Häufig donnern türkische Kampfjets unter Missachtung des griechischen Luftraums im Tiefflug über griechische Inseln.
Erdogan bedroht die EU-Außengrenzen permanent: mit seiner Kriegsrhetorik, die schon mehrfach in militärischen Operationen wie im Irak oder in Syrien mündete, mit seinen Signalen, etwa eine Wirtschaftszone mit Libyen in einer Form zu vereinbaren, die die dazwischen liegenden griechischen Inseln wie Rhodos oder Kreta völlig ignoriert. Oder mit seiner Forderung nach einer Entmilitarisierung der vor dem türkischen Festland liegenden griechischen Inseln, die Erdogan gleichzeitig immer wieder unverhohlen zu erobern droht.
Ein Großteil der griechischen Bevölkerung empfindet Erdogan als regionales Pendant zu Putin. Die Sorge vor einem militärischen Angriff der Türkei steigt in Griechenland täglich. Immerhin reagiert die griechische Regierung auf diese Provokationen deeskalierend. Dennoch dürften mit dem russischen Angriff auf die Ukraine die Hemmungen gesunken sein, in Europa einen Krieg zu starten, und die EU-Mitgliedstaaten müssen sich gegenüber ihren Nachbarländern neu positionieren. Dabei kommen Deutschland und Griechenland in unterschiedlicher Form Schlüsselrollen zu.
Griechenland konnte sich in der jüngeren Vergangenheit vor allem auf die militärische Unterstützung Frankreichs und der USA verlassen. Deutschland fungierte bei vergangenen Auseinandersetzungen – man denke an die Konfrontationen zwischen Griechenland und der Türkei in der östlichen Ägäis im Sommer 2020 – aufgrund seiner engen wirtschaftlichen Verbindungen zur Türkei bislang eher als neutraler Mittler.
Dass sich Deutschland lange nicht uneingeschränkt hinter das EU-Mitgliedsland Griechenland stellte, wenn dessen Grenzen bedroht waren, stößt in Athen auf großes Unverständnis. Und eine solche Position bedarf auch angesichts der von der Bundesregierung eingeleiteten neuen Doktrin der wertegeleiteten Außenpolitik der Überprüfung.
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner und einer der wichtigsten ausländischen Investoren der Türkei und hat damit – ähnlich wie in seinen vergangenen Beziehungen zu Russland – erhebliche Eigeninteressen. Diese Eigeninteressen könnten zukünftig einem geschlossenen Auftreten der EU bei einer türkischen Aggression in Richtung EU entgegenstehen.
Insofern ist es eine berechtigte Frage, welche Haltung Deutschland zukünftig gegenüber der Türkei auch im Vergleich zu Griechenland einnehmen möchte. Ist es nicht Zeit für Signale, wonach die Handelsbeziehungen zu autokratisch regierten Staaten tendenziell eingeschränkt werden sollten, zu denen die Türkei zweifelsohne gehört?
Die jüngsten Erfahrungen mit anderen autokratisch regierten Ländern, zu denen sich Deutschland in Abhängigkeiten begeben hat, werden in Deutschlands Öffentlichkeit derzeit kritisch diskutiert und sprechen für solche Einschränkungen auch gegenüber der Türkei. Außenministerin Baerbock hat bei ihrem Besuch deutliche Signale gesendet: Sie verurteilte die militärischen Drohgebärden der Türkei und lobte die Dialogbereitschaft Griechenlands.
Der deutsche Finanzminister hat bei seinem Athen-Besuch Mitte Juni betont, dass es Deutschland nicht akzeptieren würde, wenn die nationale Souveränität von EU-Partnerländern infrage gestellt wird. Ebenso wichtig war seine Aussage, wonach es an der Zeit sei, dass Griechenland ein neues Kapitel in seiner Entwicklung eröffne. Dazu passt, dass die in den Krisenjahren erheblich gesunkenen Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Griechenland zuletzt endlich wieder angestiegen sind.
Diese Beziehungen gilt es nun weiter zu intensivieren und zu einer strategischen Partnerschaft auszubauen. Erste Voraussetzungen sind dafür geschaffen: Zum einen hat die konservative Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis den seit Langem anstehenden Reformprozess in Griechenland gestartet, in dessen Folge auch die deutschen Direktinvestitionen in Griechenland angestiegen sind, etwa in erneuerbare Energien oder in den IT-Sektor.
Zum anderen kann Griechenland ganz aktuell zu einem neuen Hub für die Energieverteilung werden, insbesondere wenn es um die Strom- und Gasversorgung der Region geht und dort etwa demnächst Strom über ein Seekabel und LNG-Gas aus Ägypten und Israel anlangt.
Diese Schritte ebenso wie die langfristige Absicherung der griechischen Staatsschulden haben sich auch in anderer Form ausgezahlt: So hat die EU soeben das „Programm zur verstärkten finanzpolitischen Überwachung Griechenlands“ beendet und dieses in ein „normales Überwachungsprogramm“ überführt. Nach 12 Jahren hat Griechenland somit den Modus als Krisenstaat verlassen. Auch die Sorge, dass die griechischen Staatsfinanzen angesichts steigender Zinsen wieder zu einer Hypothek werden, ist derzeit im Unterschied zu Italien unberechtigt.
Ganz im Gegenteil: Der überwiegende Teil der griechischen Staatsschuld ist zu sehr niedrigen Zinsen angelegt, und die reale griechische Staatsschuld schrumpft aufgrund der stark steigenden Inflation. Mit anderen Worten: Es wird zunehmend realistisch, dass Griechenland die alten Staatsschulden, die derzeit rund 200 Prozent des BIP betragen, in ferner Zukunft wird bedienen können. Und neue Staatsschulden versucht es derzeit zu vermeiden.
Trotz aller Fortschritte sind die Reformen aber noch längst nicht dort angekommen, wo die griechische Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit vor drei Jahren hinwollte. Das griechische Innovationssystem, die Qualität der Regulierung und Bürokratieprozesse und vor allem das Justizsystem sind im Vergleich zur Europäischen Union immer noch unterdurchschnittlich gut entwickelt.
Und so ermutigte der deutsche Finanzminister seine griechischen Partner diesen Reformprozess trotz aller weltpolitischer Widrigkeiten weiterzuführen, und bot seine Unterstützung an.
Es gibt also zwischen der deutschen und der griechischen Regierung viel zu besprechen. Und es ist gut, dass der in den letzten zehn Jahren doch immer wieder einmal eingenommene schulmeisterliche Ton auf deutscher Seite nun der Vergangenheit angehört – eine weitere wichtige Voraussetzung für eine strategische Partnerschaft.
Themen: Europa